Automatisierte Datenanalyse der Polizei in Hessen und Hamburg verfassungswidrig

Die Regelungen zur automatisierten Analyse polizeilicher Datenbestände in Hessen und Hamburg sind verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Sie seien unverhältnismäßig und verletzten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die automatisierte Datenanalyse sei aber grundsätzlich zur vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten legitim, eine verfassungsgemäße Ausgestaltung möglich.

Automatische Datenanalyse zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten

Die hessische und die hamburgische Regelung (§ 25a Abs. 1 HSOG, § 49 Abs. 1 PolDVG), die im weitgehend gleich lauten, ermöglichen der Polizei die Vernetzung und softwaregestützte Analyse vorhandener, bisher unverbundener polizeilicher Datenbestände, um so neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das Programm durchforstet Datenbanken, um Querverbindungen zu entdecken, die den Ermittlern sonst vielleicht nie auffallen würden. Nach den Regelungen ist die automatisierte Datenanalyse (Hessen) oder Datenauswertung (Hamburg) in begründeten Einzelfällen zur vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten im Sinn von § 100a Abs. 2 StPO oder zur Abwehr von Gefahren für bestimmte Rechtsgüter zulässig. In Hamburg wird § 49 PolDVG bislang nicht angewendet. In Hessen wird von den Befugnissen des § 25a HSOG dagegen jährlich tausendfach über die Analyseplattform "hessenDATA" Gebrauch gemacht. In einer der dortigen Datenbanken sind allerdings auch Opfer und Zeugen erfasst - oder jemand, der einmal einen Kratzer am Auto zur Anzeige gebracht hat. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Überprüfung in Karlsruhe angestoßen hatte, hält das für hochproblematisch. Das Programm mache auch vor unbescholtenen Menschen nicht Halt. Außerdem sei die Verlockung groß, mit der Zeit auch externe Daten einzuspeisen - etwa aus sozialen Netzwerken. Die beschwerdeführenden Journalisten, Anwälte und Aktivisten rügten insbesondere eine Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Indirekt hat das Urteil auch Auswirkungen auf andere Bundesländer. Nordrhein-Westfalen setzt die Software ebenfalls bereits ein. Bayern arbeitet gerade an der Einführung.

BVerfG: Regelungen mangels ausreichender Eingriffsschwelle unverhältnismäßig

Laut BVerfG sind die beiden Regelungen verfassungswidrig. Sie verstießen gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung sei zwar grundsätzlich legitim zur vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten, insbesondere bei terroristischer und extremistischer Gewalt sowie organisierter Kriminalität. Die beiden Regelungen seien aber mangels ausreichender Eingriffsschwelle unverhältnismäßig. Je schwerer der Eingriff wiege – abhängig von Art und Umfang der Daten sowie Auswertungsmethode –, umso strenger seien die Anforderungen an das zu schützende Rechtsgut und an den Anlass der Maßnahme. Die gerügten Regelungen ermöglichten schwerwiegende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung, da die Befugnisse zur Datenanalyse daten- und methodenoffen formuliert seien. Die Befugnisse ließen die automatisierte Verarbeitung unbegrenzter Datenbestände mittels rechtlich unbegrenzter Methoden (auch "Data-Mining", selbstlernende Systeme) zu. Sie erlaubten der Polizei so, mit einem Klick umfassende Profile von Personen, Gruppen und Milieus zu erstellen und auch zahlreiche rechtlich unbeteiligte Personen weiteren polizeilichen Maßnahmen zu unterziehen, die in irgendeinem Zusammenhang Daten hinterlassen hätten, deren automatisierte Auswertung die Polizei auf die falsche Spur zu ihnen gebracht habe. Ferner könnte nach dem Wortlaut das Suchergebnis in maschinellen Sachverhaltsbewertungen bestehen – bis hin zu Gefährlichkeitsaussagen über Personen im Sinne eines "predictive policing". Erforderlich sei daher das Erfordernis einer konkretisierten Gefahr für besonders gewichtige Rechtsgüter – etwa Leib, Leben oder Freiheit der Person. Dem genügten die beiden Vorschriften nicht.

Fortgeltung in Hessen mit Maßgaben

Das BVerfG hat die Fortgeltung des § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG bis längstens Ende September mit folgender Maßgabe – unter Zugrundelegung des in der hessischen Praxis gewählten Konzepts – angeordnet: Von der Befugnis des § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG dürfe nur Gebrauch gemacht werden, wenn bestimmte, genügend konkretisierte Tatsachen den Verdacht begründeten, dass eine besonders schwere Straftat im Sinne von § 100b Abs. 2 StPO begangen worden sei und aufgrund der konkreten Umstände eines solchen im Einzelfall bestehenden Tatverdachts für die Zukunft mit weiteren, gleichgelagerten Straftaten zu rechnen sei, die Leib, Leben oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdeten. Ferner müsse das Vorliegen dieser Voraussetzungen und die konkrete Eignung der verwendeten Daten zur Verhütung der zu erwartenden Straftat durch eigenständig auszuformulierende Erläuterung begründet werden. Zudem müsse sichergestellt werden, dass keine Informationen in die Datenanalyse einbezogen werden, die aus Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchung, Telekommunikationsüberwachung, Verkehrsdatenabfrage, länger andauernder Observation, unter Einsatz von verdeckt ermittelnden Personen oder Vertrauenspersonen oder aus vergleichbar schwerwiegenden Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung gewonnen worden seien. Angesichts der Bedeutung, die der Gesetzgeber der Befugnis für die staatliche Aufgabenwahrnehmung beimessen dürfe, und wegen ihrer Bedeutung für die hessische Polizeipraxis sei eine befristete Fortgeltung eher hinzunehmen als eine Nichtigerklärung. § 49 Abs. 1 PolDVG sei hingegen nichtig. Es seien keine Umstände ersichtlich, die eine befristete Fortgeltungsanordnung erforderten und rechtfertigten.

BVerfG, Urteil vom 16.02.2023 - 1 BvR 1547/19

Redaktion beck-aktuell, 16. Februar 2023.