beck-aktuell: Herr Professor Giesen, GDL-Gewerkschaftschef Claus Weselsky droht in diesen Tagen wieder mit Streiks, das Streikrecht wird daher intensiv diskutiert. Eine gesetzliche Grundlage dafür sucht man jedoch vergebens. Auf welchen rechtlichen Füßen steht das Streikrecht in Deutschland?
Prof. Dr. Richard Giesen: Das Streikrecht ist nicht in der Verfassung verbürgt, aber vom BVerfG und auch vom BAG aus Art. 9 Abs. 3 GG hergeleitet worden. Eine einfachgesetzliche Ausgestaltung hat der Gesetzgeber aber nicht vorgenommen, daher ist das Streikrecht heute vielleicht die größte richterrechtliche Materie, die wir in Deutschland haben.
beck-aktuell: Hat der Gesetzgeber die Gerichte damit, wie manche kritisch bemerken, allein gelassen?
Giesen: Ja, das ist so. Das BVerfG hat diesbezüglich auch schon Gerichte in Schutz nehmen müssen. Solange es kein geschriebenes Recht dazu gibt, müssen eben Gerichte die Regeln machen.
Das Problem dabei: Richterrecht kann sich schnell ändern und hat zudem die strukturelle Schwäche, dass es immer nur von Fall zu Fall erlassen und gestaltet werden kann. Allgemeingültige Regeln zu formulieren ist eine Aufgabe, die eigentlich dem parlamentarischen Gesetzgeber zukommt.
"Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde abgeschafft"
beck-aktuell: Was könnte bzw. sollte er denn regeln?
Giesen: Das, was heute offenkundig fehlt: Zumindest ein Schlichtungsverfahren, in dem die Kommunikation zwischen den Parteien, das Einlegen von Abkühlungspausen und ein – möglicherweise veröffentlichter – Schlichterspruch am Ende gewährleistet werden. Letzteres würde den Druck auf die Parteien erhöhen, sich zu einigen. Dabei kann es natürlich keine Zwangsschlichtung geben wie zu Weimarer Zeiten, aber es würde doch die Bereitschaft steigern, sich ernstlich mit einem Angebot der Gegenseite auseinanderzusetzen.
beck-aktuell: Arbeitsrechtlerinnen und Arbeitsrechtler kritisieren zunehmend, die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Streiks sei "abgeschafft". Gibt es dort wirklich eine solche Leerstelle?
Giesen: Ja. Die Rechtsprechung des BAG zur Verhältnismäßigkeit ist seit 2007 dahingehend geändert worden, dass nun die Gewerkschaften selbst über Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen entscheiden. Nur die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kann durch Richter überprüft werden. Mir ist aber jedenfalls kein Fall bekannt, in dem eine Arbeitskampfmaßnahme deshalb gescheitert wäre – auch wenn die GDL aktuell alles dafür tut.
"Wellenstreiks sollen flächendeckende Streiks eigentlich vermeiden"
beck-aktuell: Claus Weselsky hat nun sogenannte Wellenstreiks angekündigt. Worum handelt es sich dabei?
Giesen: Wellenstreiks sind eigentlich eine Arbeitskampfmaßnahme, die einst von der IG Metall entwickelt wurde, um flächendeckende Streiks und flächendeckende Auswirkungen von Streiks in Schlüsselbetrieben zu vermeiden. Es handelt sich dabei um viele kleinere Streiks an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. So ergibt sich das Bild der Welle: Sie taucht an einem Ort schnell auf und wieder ab.
Die GDL will Wellenstreiks nun aber ohne oder nur mit sehr kurzer Ankündigung durchführen. Dahinter scheint mir ein Kalkül zu stecken: Man erhöht die Eingriffsschwere durch die fehlende oder kurzfristige Ankündigung und versucht, dies öffentlich durch das Argument auszugleichen, es handele sich "nur" um Wellenstreiks.
Doch ein Wellenstreik in der Infrastruktur ist mit solchen Streiks in der Industrie nicht zu vergleichen, da hier auch örtliche Ausfälle weitreichende Auswirkungen haben können. Zudem hat diese Kommunikation in der breiten Öffentlichkeit nicht funktioniert, denn der Begriff der Wellenstreiks ist eher unbekannt und hat bei vielen Schreckensszenarien erzeugt.
"Das Streikrecht kann man ohne Grundgesetzänderung beschränken"
beck-aktuell: Vor dem Hintergrund der in den vergangenen Monaten immer dichter aufeinander folgenden Streiks im öffentlichen Nahverkehr und an anderen wichtigen Stellen gibt es auch Überlegungen, das Streikrecht zumindest für die kritische Infrastruktur zu beschränken. Wäre hierfür eine Grundgesetzänderung nötig, die einer Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat bedürfte?
Giesen: Ganz im Gegenteil: Dass es zurzeit keine geschriebenen Regeln gibt, heißt ja nicht, dass solche nicht möglich wären. Das existierende Richterrecht ist ja auch eine Beschränkung des Streikrechts. Und das BVerfG hat bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, hier gesetzliche Regeln zu schaffen. Also ja, man kann es ohne Grundgesetzänderung beschränken. Das geht natürlich nur unter Achtung der verfassungsrechtlichen Grundlagen insbesondere des Art. 9 Abs. 3 GG, aber dieses Grundrecht steht ja nicht freischwebend in der Luft. Es gilt schließlich auch, andere verfassungsrechtliche Güter zu achten, die für die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur streiten.
Dies bestätigt der Blick in traditionell streikfreudige Länder wie Frankreich oder Italien. Dort ist es selbstverständlich, dass es Regeln gibt, um einen veritablen Basisbetrieb der Infrastruktur aufrechtzuerhalten.
"Weselskys Denkfehler wirkt sich nicht auf Rechtmäßigkeit des Streiks aus"
beck-aktuell: Ein Großteil des aktuellen Streits entzündet sich auch an der Person von GDL-Chef Weselsky, der jüngst einen "Denkfehler" in Bezug auf ein Angebot der Deutschen Bahn einräumte. Ist er als Bundesvorsitzender denn für seine Amtszeit eine Art Alleinherrscher, dessen Irrtümer schwere Folgen haben können oder gibt es eine interne Kompetenzverteilung, die ihn einhegt?
Giesen: Die GDL ist nicht monarchisch verfasst. Der Eindruck des Alleinherrschers, den die Öffentlichkeit von Herrn Weselsky hat, wird medial vermittelt und durch die GDL sicherlich unterstützt, ist aber unzutreffend. Es gibt eine interne Kompetenzverteilung, innerhalb derer die Gewerkschaft Angebote prüft und dann über Streiks entschiedet. Ein solcher "Denkfehler" und das offenkundige Desinteresse des Bundesvorsitzenden an Vorschlägen der Gegenseite lassen zwar tief blicken, wirken sich aber nicht auf die Rechtmäßigkeit der Streiks aus.
beck-aktuell: Die Person des Gewerkschaftschefs Weselsky polarisiert dennoch. So sehr, dass sich jüngst auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) mit scharfer Kritik an ihm in die Diskussion eingeschaltet hat. Was halten Sie im Hinblick auf die Tarifautonomie davon, wenn sich Politikerinnen und Politiker zu Streitigkeiten zwischen Tarifparteien äußern?
Giesen: Politiker können sich natürlich zu derartigen Themen öffentlich äußern, das hat ja zum Beispiel auch der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil getan mit seinen unglücklichen Äußerungen zum Mindestlohn. Das ist im Kern auch nachvollziehbar. Ich halte es aber für unpassend, nun persönliche Wut oder Frustration in Bezug auf die Person von Herrn Weselsky zu äußern. Das, was wir aktuell erleben, hat nichts mit ihm zu tun, sondern mit einer Entwicklung seit den 90-er Jahren, im Laufe derer die Verbeamtung der Lokführer beendet und die Tarifeinheit aufgehoben wurde und das BAG den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dekonstruiert hat. Viele Akteure in Politik und Justiz haben den Zustand herbeigeführt, der jetzt beklagt wird. Dort anzusetzen, wäre Aufgabe des Gesetzgebers.
"Geforderte Regelungen in den meisten Bahn-Betrieben nicht anwendbar"
beck-aktuell: Sie hatten bereits Änderungspotenziale angedeutet. Was wäre noch möglich?
Giesen: Helfen würden zum einen die oben bereits angesprochenen Schlichtungsregeln. Zum anderen könnte man gesetzlich festlegen, dass Streiks dort unzulässig sind, wo die geforderten Tarifänderungen nach § 4a Abs. 2 S. 2 des Tarifvertragsgesetzes gar keine Wirkung hätten, weil sie mit einem anderen Tarifvertrag kollidieren, der im selben Betrieb gilt. Denn die jetzt von der GDL geforderten Regelungen sind in der Mehrheit der Betriebe der Deutschen Bahn gar nicht anwendbar.
beck-aktuell: Die Regelungen, für welche die GDL aktuell streikt, würden also in weiten Teilen der bestreikten Infrastruktur gar nicht gelten?
Giesen: Ja. Ein Tarifvertrag der GDL wird nur in denjenigen Betrieben der DB anwendbar sein, in denen die GDL mehr Mitglieder hat als die viel größere EVG. Das ist nur ein kleiner Teil der Betriebe.
beck-aktuell: Was Sie sagen, klingt aber, als sei GDL-Chef Weselsky in Ihren Augen weniger ein Problem als bloß ein Symptom. Ohne gesetzliche Änderungen würde sich also ohnehin nicht viel ändern, auch unter einem neuen Gewerkschaftschef?
Giesen: Genau. Ich finde es unpassend, dass sich die ganze Unzufriedenheit bei der Person Weselsky ablädt und nicht bei den Rahmenbedingungen. Das Weselsky-Bashing überzeugt mich nicht und führt auch nicht weiter.
beck-aktuell: Herr Professor Giesen, vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Richard Giesen ist Hochschullehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat dort den Lehrstuhl für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht inne. Er ist außerdem geschäftsführender Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht.
Das Interview führte Maximilian Amos.