NJW-Editorial
Streiks ohne Rechtssicherheit
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Arbeitskampfrecht ist in Deutschland Richterrecht, und das war es schon immer. Doch im Bereich der Infrastruktur funktionieren die Selbstregulierungsmechanismen nicht mehr. In unserem Editorial mahnt Prof. Dr. Richard Giesen zu einer Rekonstruktion des Arbeitskampfrechts.

18. Jan 2024

Zur Weimarer Zeit waren die Regeln hart gegenüber den Beschäftigten: Wenn sie streikten, beendeten sie ihre Arbeitsverträge, und sie mussten hoffen, dass sich der Arbeitgeber nicht nur auf bessere Arbeitsbedingungen einließ, sondern sie auch wieder einstellte. Das änderte sich erst 1955, als das BAG entschied, beim rechtmäßigen Streik würden die Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nicht beendet, sondern suspendiert. Damit stellte sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Streiks. Sie ist bisher von allen Richtergenerationen des BAG anders beantwortet worden. 1955 orientierte man sich am Maßstab der „Sozialadäquanz“, dann war es 1970 der Grundsatz des „letzten Mittels“ („ultima ratio“), aus dem eine Verfahrensordnung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gefolgert wurden. Mit den Jahren verwarfen neue Richter die bisherigen Verfahrens­regeln, und 2007 schafften sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip faktisch ab: Nun waren es die Gewerkschaften, die über Geeignetheit und Erforderlichkeit der ­Kampfmaßnahmen zu entscheiden hatten. Dann kam im Jahr 2009 das „Flashmob“-Urteil, welches es den Gewerkschaften erlaubte, randalierende Fremde in einen Supermarkt zu entsenden, um dort die Tätigkeit von Arbeitnehmern zu stören, die sich nicht dem Streik ­angeschlossen hatten (BAG NJW 2010, 631). Aus Tarifautonomie war Tarifheteronomie geworden.

Diese Entwicklung mag auf einer Art Grundvertrauen beruhen, welches die BAG-Richter den Gewerkschaften entgegenbrachten, deren beste Juristen als ehrenamtliche Richter in Erfurt für ihre Anliegen warben. Das Vertrauen wurde allerdings in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Infrastruktur heftig enttäuscht. Dort funktionieren die Selbstregulierungsmechanismen des Arbeitskampfs nicht. Dies sind erstens die Gefährdung des eigenen Arbeitsplatzes und zweitens der Lohnverzicht. Arbeitsplätze von Lokführern werden selbst durch wochenlange Streiks nicht gefährdet. Und wenige Streikstunden richten Multimillionenschäden an, die in keiner Beziehung zum ­währenddessen eintretenden Lohnausfall stehen. Leidtragend sind weniger die Unternehmen, sondern vor allem die Pendler. So führt eine vermeintlich gewerkschaftsfreundliche Judikatur zu einer arbeitnehmerfeindlichen Arbeitskampfordnung. Bitter ist, dass es der GDL primär nicht darum geht, Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern die Mehrheitsgewerkschaft EVG zwecks Mitgliederwerbung an Aggressivität zu übertreffen.

Jetzt rächt sich, dass das BAG seine Judikatur nie stabilisiert hat. Dabei wird schon seit langem vertreten, dass die Beziehung zwischen potenziellen Tarifparteien ein Vertragsanbahnungsverhältnis ist. Dieses gebietet die Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils. Das wäre ein Ansatz für die Rekonstruktion des Arbeitskampfrechts.

Prof. Dr. Richard Giesen lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht; er ist geschäftsführender Direktor des dortigen Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR).