Hat Deutschland zu viele Richter?
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Das Institut der deutschen Wirtschaft meint, ein Personalmangel sei das letzte der Probleme im deutschen Justizsystem. Mit mehr Digitalisierung und Spezialisierung in der Ausbildung könne die Justiz sogar mit weniger Richterinnen und Richtern auskommen. Das stößt auf Widerspruch.

Schon der Titel des am Mittwoch publizierten Berichts des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ist, wenngleich als Frage formuliert, provokant: "Hat Deutschland zu viele Richter?" In Zeiten, in denen landauf, landab über Personalmangel in der Justiz geklagt wird und Bundesländer ihre Einstellungsvoraussetzungen zunehmend absenken, um noch ausreichend Nachwuchs anzulocken, klingt es fast wie Hohn. Und da ist die allerorten bildhaft heranrollende Pensionierungswelle noch nicht einmal mitgedacht. Wie also kommen (Wirtschafts-)Forscherinnen und -forscher zu der Schlussfolgerung, dass Deutschland nicht etwa zu wenige, sondern gar zu viele Richterinnen und Richter beschäftige?

Zunächst einmal zum Herausgeber des "Kurzberichts": Das IW ist ein privates, arbeitgebernahes Wirtschaftsforschungsinstitut, das von Verbänden und Unternehmen finanziert wird. In dieser Rolle veröffentlicht es Analysen und Stellungnahmen zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Trägervereine sind die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Insofern darf man sagen, dass der Blick des IW auf die deutsche Justiz eher einer von außen ist – was per se nichts Schlechtes ist.

Deutsche Justiz mit deutlich mehr Personal als andere Staaten

Der Bericht geht zunächst darauf ein, dass die EU-Kommission erst in diesem Jahr in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht die Empfehlung ausgesprochen habe, die Richterbesoldung in Deutschland deutlich anzuheben, unter anderem, um den bestehenden Personalbedarf zu decken, der auch 1.500 neue Stellen erforderlich mache. Der Mangel an Richterinnen und Richtern sowie deren hohes Durchschnittsalter sei "ein bekanntes Thema und nährt die Sorge um die Funktionsfähigkeit der deutschen Justiz", schreibt das IW.

Doch das sei gar nicht das zentrale Problem. Deutschland leiste sich schließlich ein Justizsystem, das eine große Anzahl an Richterinnen und Richtern voraussetze, heißt es im Bericht. Im internationalen Vergleich liege man im Hinblick auf die Anzahl an Berufsrichterinnen und -richter pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner an der Spitze. In absoluten Zahlen seien das kaum weniger als in den USA, dreimal so viele wie in Frankreich und Italien und viermal so viele wie in England. Auch bei den Staatsanwaltschaften liege die Personalausstattung deutlich über den europäischen Nachbarn. Das Ergebnis sei ein sehr teures Justizsystem, das jedoch in puncto Effizienz in der europäischen Spitze nicht mithalten könne.

Das IW schlägt daher nicht etwa vor, auf höhere Justizgehälter zu setzen, um zahlreichen Nachwuchs anzulocken. Im Gegenteil: Die Gehälter seien gar nicht so schlecht, insinuiert der Bericht. Die Einstiegsgehälter in der Justiz lägen etwa in Bayern (das traditionell eher gut zahlt) über dem durchschnittlichen Einstiegsgehalt mittelständischer Kanzleien, hinzu komme das attraktive Beamtenverhältnis.

Effizienz statt Personal?

Die Lösung sieht man dafür in einer Effizienzsteigerung. Daher kritisiert der Bericht, dass Zivilkammern zu viel Massengeschäft entscheiden müssten, bedingt durch eher niedrige, wenngleich künftig auf 8.000 Euro angehobene Streitwertgrenzen und viele Berufungssachen. Wirklich zentral sind aber in den Augen des Autors (eines Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers) noch andere Punkte: Der Wirtschaftsstandort Deutschland leide unter fehlendem wirtschaftlichem Verständnis auf den Richterbänken. Grund sei das veraltete Ausbildungssystem, das immer noch generalistisch orientiert sei, sowie zu wenig Spezialisierung an den Gerichten. Die Einrichtung von Fachkammern anstelle eigener Fachgerichtsbarkeiten könne Ressourcen bündeln. In dieser Hinsicht findet immerhin die inzwischen beschlossene Einführung von Commercial Courts lobende Erwähnung.

Die übrigen Gerichte, insbesondere Landgerichte, seien den künftigen Anforderungen aber nicht gewachsen, fürchtet das IW. Neben der fehlenden Spezialisierung hat man hier auch eine mangelnde Digitalisierung ausgemacht. Zwar habe der Gesetzgeber sich diesbezüglich an Verbesserungen versucht, diese würden aber das Grundproblem nicht lösen, so der IW-Bericht.

Studienautorin: "Äpfel und Birnen verglichen"

Dieser stützt sich in weiten Teilen auf die viel beachtete Studie "Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten" von 2023. Doch Caroline Meller-Hannich, Zivilrechts-Professorin an der Universität Halle und Mitautorin der zitierten Studie, kann mit dem Bericht des IW eher wenig anfangen. Zum einen seien Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern im Hinblick auf die Zahl der Justizbediensteten tückisch, meint Meller-Hannich im Gespräch mit beck-aktuell: "Einfach Bevölkerungszahl und Richteranzahl in verschiedenen Ländern gegenüberzustellen, passt nicht, das ist wie Äpfel und Birnen vergleichen". In anderen Staaten sei der Zugang zum Recht ganz anders geregelt, es gebe andere Instanzenzüge, Spruchkörperbesetzungen, etc. "Wir sind ein effizienter Rechtsstaat mit hoch organisierter Arbeitsteilung, und es steht uns gut zu Gesicht, bei der Richterschaft gut ausgestattet zu sein."

Zudem, betont sie, ließe sich die Schlussfolgerung, Deutschland habe womöglich gar zu viele Richterinnen und Richter, nicht aus ihrer Untersuchung ableiten – im Gegenteil: "Unsere Schlussfolgerungen sind andere", so Meller-Hannich. Auch sie wirbt für mehr Spezialisierung und dafür, junge Richterinnen und Richter zielgerichtet nach deren Interessengebiet einzustellen und zu verwenden, was die Effizienz der Justiz aus ihrer Sicht steigern würde. Doch die Konsequenz daraus könnten nicht weniger Beschäftigte sein, sondern eher mehr. Schließlich müsse man in spezialisierten Spruchkörpern ausreichend spezialisierte Kräfte vorhalten, das Hin- und Herschieben zwischen Baukammer und Einzelrichterdezernat, um Bedarfe kurzfristig zu decken, sei dann nicht mehr möglich. Ihre Forschung zeige, dass die Anwaltschaft hoch spezialisiert sei in den rechtlichen, aber auch wirtschaftlichen und technischen Hintergründen ihres Fachgebiets: "Diese Spezialisierung hat die Justiz nicht mitgemacht." Man behandele Richterinnen und Richter immer noch als flexible Einsatzmasse, weshalb echte Expertise kaum heranwachsen könne. Dies sei ein strukturelles Problem. In puncto Digitalisierung stimmt die Zivilrechtslehrerin allerdings zu, dass hier mit technischem Fortschritt viel Effizienz gewonnen werden könne, etwa, was unproduktive Standzeiten von Akten angehe.

DRB: "Nicht nur Wirtschaftsverfahren betrachten"

Auch Giesela Rühl, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin, stimmt zu, dass der Vergleich der Zahl von Justizbeschäftigten in unterschiedlichen Ländern kaum Aussagekraft habe: "Es ist sicherlich zutreffend, dass die deutsche Justiz effizienter arbeiten und sich die Vorteile der Digitalisierung besser zunutze machen könnte", so Rühl gegenüber beck-aktuell. "Ein reiner Zahlenvergleich ohne Berücksichtigung qualitativer Faktoren führt allerdings in die Irre. Zumindest die USA und Italien sind in Sachen Rechtsstaatlichkeit wirklich überhaupt keine Vorbilder." Rühl bemängelt zudem zahlreiche Ungenauigkeiten und falsche Annahmen im Bericht des IW. So weist sie etwa darauf hin, dass die meisten Verfahren an den Landgerichten nicht von Zivilkammern, sondern von originären Einzelrichterinnen und -richtern entschieden würden (§ 348 Abs. 1 ZPO). Auch kritisiert sie, dass der Beitrag nicht klar benenne, wo die deutsche Justiz weniger effizient arbeite als die Justiz in anderen Ländern und was konkret verbessert werden könnte.

Schließlich ist auch der Deutsche Richterbund (DRB) anderer Meinung als das IW: DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn teilt die Einschätzungen aus der Wissenschaft, dass ein bloßer Vergleich der Zahl der Justizbeschäftigten in verschiedenen Ländern wenig Aussagekraft habe. "Zudem zeichnet sich das deutsche Rechtssystem durch einen hohen Individualrechtsschutz aus, der international als vorbildlich gilt, Verfahren aber aufwendiger und langwieriger macht. Will man diese hohen Standards nicht schleifen, braucht es eine hinreichende Zahl von Richterinnen und Richtern", so Rebehn.

Zudem weist er darauf hin, dass Deutschland bei der Zahl seiner Richterinnen und Richter im Verhältnis zur Bevölkerung nach dem aktuellen EU-Justizbarometer 2024 "mitnichten an der Spitze, sondern lediglich im Mittelfeld" stehe, "noch hinter Ländern wie Ungarn, Polen oder Österreich und weit hinter Griechenland, Slowenien oder Kroatien". Bei der Bezahlung liege man dagegen am Tabellenende. "Dass Deutschland sich zu viele Richter und eine teure Richterschaft leisten würde, trifft also nicht zu." Wer zudem nicht nur den kleinen Ausschnitt wirtschaftsrechtlicher Verfahren betrachte, so Rebehn, "der erkennt das ganze Bild: Nach den offiziellen Personalschlüsseln der Länder fehlen bundesweit inzwischen rund 2.500 Staatsanwälte, Strafrichter und Verwaltungsrichter, weil die Verfahrenszahlen in diesen Bereichen zuletzt deutlich gestiegen sind und weiter steigen."

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 10. Oktober 2024.