Wenn ein Staat ohne Provokation angegriffen wird, dann steht man ihm zur Seite – dieses simple Prinzip prägt die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse. Wenn die Sicherheit des betreffenden Staates dann auch noch von höchster politischer Stelle zur eigenen "Staatsräson" erklärt wurde, dürfte dies umso mehr gelten. Insofern ist das Dilemma, in dem sich die Bundesregierung derzeit befindet, gut nachvollziehbar.
Nach dem Angriff von Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 hat die deutsche Regierung Israel nicht nur mit Worten öffentlich unterstützt. 3.000 tragbare Panzerabwehrwaffen, 500.000 Schuss Munition für Maschinengewehre, Maschinenpistolen sowie weitere Schusswaffen hat Deutschland allein im vergangenen Jahr an Israel geliefert. Dies alles, während das israelische Militär als Reaktion den Gaza-Streifen – eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt – bombardierte und später mit Bodentruppen infiltrierte. Unabhängig erhobene Zahlen sind schwer zu bekommen, doch man kann von einer hohen Zahl an Todesopfern des israelischen Gegenschlags ausgehen, insbesondere unter Zivilisten.
Täter-Opfer-Umkehr oder berechtigte Warnung vor einem Genozid?
Obwohl die deutschen Hilfen hierzulande zunächst breite gesellschaftliche Zustimmung fanden, kam auch schnell Kritik auf. Geht Israel zu brutal gegen die in Gaza lebende Zivilbevölkerung vor? Rechtfertigt der Terrorangriff der Hamas – so brutal und unmenschlich er gewesen sein mag – eine so drastische Reaktion? Droht gar ein Völkermord? Wer diese Fragen stellt, gerät schnell in den Verdacht, eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben und den Israelis gewissermaßen die Schuld an der Situation zu geben. Ein Vorwurf, auf den man gerade in Deutschland sehr empfindlich reagiert.
Moralisch ist die Angelegenheit schwer zu fassen: Der Terrorangriff der Hamas war barbarisch und Gaza ist faktisch Heimstätte und Kommandozentrale der Organisation. Auf der anderen Seite sind die Bilder des Elends in Gaza, die seit dem Gegenangriff Israels um die Welt gehen, schwer zu ertragen. Doch die Moral ist nur eine Seite der Geschichte.
IGH bejahte bereits Völkermord-Gefahr
Auf der rechtlichen Seite hat sich schon einiges getan. So hat Südafrika beim IGH Klage gegen Israel wegen Völkermordes eingereicht. Der Gerichtshof hat daraufhin zumindest in einem Eilverfahren die Gefahr eines solchen Genozids bejaht und Israel zu mehr Schutzmaßnahmen für die palästinensische Zivilbevölkerung verpflichtet.
Ein niederländisches Gericht hat der eigenen Regierung die Lieferung von F-35-Kampfjets an Israel untersagt, da es fürchtete, dass diese eingesetzt werden könnten, um im Gazastreifen schwere Verstöße gegen das humanitäre Kriegsrecht zu begehen. Und nun verklagt auch Nicaragua Deutschland vor dem IGH wegen Beihilfe zum Völkermord durch seine Waffenlieferungen. Gleichzeitig stellte es, wie schon die Südafrikaner, einen entsprechenden Eilantrag.
Das wirft eine Reihe von Fragen auf. Zuallererst vielleicht die, warum Länder wie Nicaragua oder Südafrika überhaupt gerichtlich auf die Einhaltung von Völkerrecht in einem Konflikt zwischen Israel und Palästina pochen können. Schließlich braucht es auch vor einem internationalen Gerichtshof in der Regel eine subjektive Betroffenheit im Sinne einer Klagebefugnis.
Im Fall von Völkermord verlangt der IGH aber gerade nicht, dass klagende Staaten mit den Geschehnissen unmittelbar zu tun haben, wie Stefanie Bock, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Marburg, im Gespräch mit beck-aktuell erklärt: "Der IGH hat hier sehr klar gesagt, dass die Nichtbegehung von Völkermord eine Erga-omnes-Pflicht ist, die gegenüber jedem anderen Staat besteht. Insofern kann sich auch jeder Staat darauf berufen."
"Genozidale" Äußerungen aus israelischer Regierung
Die große Frage, die in den Verfahren gegen Israel wie auch gegen Deutschland im Raum steht, ist jedoch, ob Israel sich im Gaza-Streifen gegenwärtig tatsächlich eines Genozids schuldig macht. Das hat der IGH in seiner Eilentscheidung nicht abschließend entschieden, gewichtige Indizien hierfür jedoch bejaht.
Der Begriff des Genozids wird nicht nur in der politischen Auseinandersetzung gebraucht, sondern im Völkerrecht klar definiert: "Man braucht eine objektive Tathandlung, wie die Tötung oder Verletzung von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe. Aber das muss nicht nur vorsätzlich geschehen, sondern in der Absicht, die bezeichnete Personengruppe als solche zu zerstören", sagt Stefanie Bock. Strafrechtlich gesprochen braucht es also einen dolus directus ersten Grades, und zwar in Bezug auf die Vernichtung der gesamten Personengruppe. Historische Leitidee ist die berüchtigte Wannseekonferenz, auf der die Nazis die industrielle Vernichtung der Juden beschlossen.
Ob Israel wirklich einen Völkermord begeht, ist demnach schwer zu beantworten. Zuallererst stehe jedem angegriffenen Staat das Recht auf Selbstverteidigung zu, so Bock. Nicht erlaubt sei indes eine Selbstverteidigung "mit allen Mitteln". Südafrika stütze sich in seiner Klage im Kern auf die hohe Zahl ziviler Todesopfer unter den Palästinensern, außerdem auf diverse Aussagen einzelner israelischer Regierungsmitglieder, die Bock ebenfalls als "genozidal" bewertet – etwa Vergleiche der Palästinenser mit Tieren oder die Aussage, im Gaza-Streifen gebe es keine Zivilisten.
Die Frage ist nur, wann eine im Ansatz legitime Selbstverteidigung mit drastischen, teils überzogenen Mitteln in Kombination mit gefährlicher Rhetorik zu einem völkerrechtlichen Verbrechen oder gar einem Völkermord wird. Bock zieht eine Analogie zum Selbstverteidigungskampf der Ukraine, die nach derzeitigen Erkenntnissen mitunter selbst Kriegsverbrechen begehe. Solange dies allerdings nicht strukturell und planmäßig erfolge, mache es die westliche Unterstützung völkerrechtlich nicht angreifbar, so Bock. Anders als im Gazastreifen bestünden im Ukraine-Krieg allerdings keinerlei Hinweise, dass ein Völkermord gegenüber der russischen Bevölkerung begangen werde.
Den Antrag von Nicaragua, ebenso wie die Klage Südafrikas, hält sie gleichwohl nicht für bloße symbolische Solidarität von Ländern des sogenannten globalen Südens gegenüber mutmaßlich kolonialistisch eingestellten Industrienationen. "Sowohl Südafrika als auch Nicaragua sind Staaten, die ganz stark das Apartheid-Narrativ bedienen und eine lange Tradition der Unterstützung Palästinas haben", erklärt die Völkerstrafrechtlerin. "Südafrika hätte sich aber vor dem IGH nicht durchgesetzt, wenn da nichts dran gewesen wäre. Deren Schriftsatz war juristisch sehr überzeugend."
Deutschlands Verantwortung
Im Verfahren Nicaragua gegen Deutschland liegt der Fall etwas anders als beim Prozess Südafrikas gegen Israel. Denn Israel erkennt den IGH eigentlich gar nicht an, womit dieser keine Zuständigkeit hätte, über mögliche Völkerrechtsverstöße des Landes zu entscheiden. Die Zuständigkeit für den südafrikanischen Antrag folgt allein aus der Tatsache, dass Israel die Genozid-Konvention der Vereinten Nationen ratifiziert hat, woraus auch eine Unterwerfung unter die Jurisdiktion des IGH (nur) in diesem Bereich folgt.
Deutschland hingegen erkenne die Zuständigkeit des Gerichtshofs viel weitergehend an, so Bock, was auch mehr Angriffspunkte für eine Klage eröffne. Aus diesem Grund findet sich im Schriftsatz von Nicaragua nicht nur der Vorwurf des Völkermordes, sondern auch der anderer Kriegsverbrechen.
Was aber würde es nun für Deutschland bedeuten, wenn der IGH den Genozid-Vorwurf gegenüber Israel tatsächlich bestätigen würde? Würde damit völkerrechtlich gesehen auch Blut an den Händen der Bundesregierung kleben? Ganz trivial ist das nicht, wie sich herausstellt, wenn man Stefanie Bock zuhört.
Zunächst einmal gibt es so etwas wie ein Verbot der Beihilfe zum Völkermord. Die Völkermord-Konvention spricht auf Englisch von "complicity in genocide". Der Begriff ist weit zu verstehen: "Ich darf nichts tun, was den Genozid unterstützt oder erleichtert", erläutert Bock. Doch damit nicht genug: "In der Völkermord-Konvention finden sich auch Ansätze einer Schutzverantwortung." Dies bedeute, dass grundsätzlich alle Unterzeichnerstaaten verpflichtet wären, einen Völkermord nicht bloß nicht zu unterstützen, sondern im Gegenteil sogar Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
Was genau aus dieser Pflicht folgt, wisse man bislang nicht genau, so Bock. Ein militärisches Eingreifen werde jedenfalls von niemandem gefordert. Denkbar sei zwar eine Verpflichtung, Gelder an Hilfsorganisationen für Palästinenser zu zahlen. Dem würde die Bundesregierung wohl nicht ausreichend nachkommen, hat man doch gerade erst Zahlungen an das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA eingestellt. Stefanie Bock glaubt indes nicht, dass der Gerichtshof so weit gehen werde, Deutschland zu Hilfszahlungen zu verpflichten.
Deutschland könnte verurteilt werden
Rechtlich und auch politisch schwieriger sind die Waffenlieferungen an Israel. Hier hält die Strafrechtlerin es für denkbar, dass die Bundesregierung vom IGH in die Verantwortung genommen wird. Eine Waffenlieferung sei – jedenfalls in Selbstverteidigungskonstellationen – zwar zunächst einmal eine rechtlich neutrale Handlung und damit nicht verboten. Die Frage ist damit aber, ab welchem Punkt ein bloßes Geschäft zu einer Beihilfehandlung wird. "Es könnte sein, dass der IGH seine eigene Entscheidung dabei als Zäsur betrachtet", vermutet Bock und meint damit die Eilentscheidung auf den Antrag Südafrikas. Da der Gerichtshof selbst hier die Gefahr eines Genozids geprüft und bejaht hat, könnte er sich nun auf den Standpunkt stellen, dass auch hilfeleistende Staaten ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf eine "saubere" Kriegsführung Israels vertrauen durften.
Ob und inwieweit anschließend Deutschland die Verantwortung für einen Völkermord zugesprochen werden könnte, hängt dann wohl auch davon ab, wie sich das Kriegsgeschehen im Gaza-Streifen seit der Eilentscheidung verändert hat. Sollte Israel nach Ansicht des IGH dessen Forderung nach besserem Schutz für die Zivilbevölkerung nachgekommen sein, sei eine Verurteilung auch Deutschlands unwahrscheinlich, so Stefanie Bock.
Die Möglichkeit, dass Deutschland in diesem Verfahren am Ende – jedenfalls teilweise – verurteilt wird, ist jedoch real, die politischen Konsequenzen sind nicht absehbar. Kaum vorstellbar ist jedenfalls, dass die Bundesregierung, die bereits unter hohem Druck steht, eine solche Entscheidung ignorieren könnte. Kommende Woche, am 8. und 9. April, will der IGH die Sache verhandeln. Wann die Richterinnen und Richter ihre Entscheidung verkünden werden, ist noch nicht bekannt.