Regeln für den Zivilisationsbruch
Vertreter aus 18 Staaten treffen sich am 12. August 1949 in Genf zur Unterzeichnung der vier Genfer Konventionen.
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Vertreter aus 18 Staaten treffen sich am 12. August 1949 in Genf zur Unterzeichnung der vier Genfer Konventionen.

Vor 75 Jahren gaben sich 18 Staaten ein Versprechen, dass nie wieder Kriege ohne Regeln geführt werden sollten. Heute haben 196 Staaten die Genfer Konventionen unterzeichnet, doch hat das die Kriege auf der Welt wirklich ziviler gemacht? Drei Völkerrechtler teilen ihre Perspektive darauf.

Es ist so eine Sache mit rechtlichen Grundsatzdokumenten, die eine bessere Welt versprechen: Sie können ihre Bestimmung erfüllen oder an den Ansprüchen scheitern. Als Beispiel für Ersteres kann vielleicht das deutsche Grundgesetz herhalten – als Abkehr von der nationalsozialistischen Menschenverachtung hat es die Voraussetzung für einen Staat geschaffen, der freier und gerechter ist als jeder vorherige auf deutschem Boden.

Die Genfer Konventionen, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges überarbeitet und am 12. August 1949 von 18 Staaten unterzeichnet wurden, sollten sicherstellen, dass es auch im bewaffneten Konflikt nie wieder Regellosigkeit und fortan Schutz für Schwache und Gefangene geben würde. Kurzum: Die Welt sollte auch im Kampf zivilisiert werden. Doch heute, genau ein Dreivierteljahrhundert später, toben immer noch Kriege auf der Welt und sterben zu viele Zivilistinnen und Zivilisten in diesen Konflikten, sodass sich die Frage stellt: Haben die Genfer Konventionen ihr Versprechen eingelöst?

Das Inhumane bändigen

Der Anspruch, den Krieg zu zivilisieren, mag zunächst einmal irritieren. Wenngleich in Deutschland das Wort "Zivilisationsbruch" eher für den Holocaust reserviert ist, bleibt doch festzuhalten, dass jeder Krieg eine Aufgabe der Zivilisiertheit ist. Die Vorstellung von "sauberen Kriegen" hatte immer etwas Zynisches – als hätte es je einen Krieg gegeben, in dem nicht Zivilisten erschossen, Frauen vergewaltigt und Kinder mit unvorstellbaren Schrecken konfrontiert worden wären. Das gibt auch der Bonner Völkerrechtler Matthias Herdegen zu bedenken und wirbt dafür, den Anspruch der Konventionen nicht misszuverstehen: "Der Krieg ist an sich etwas Unmenschliches, denn er schließt die Tötung menschlichen Lebens ein. Und wenn ich einen Kombattanten töte, dann handele ich nach dem Völkerrecht sogar rechtmäßig." Viele, so Herdegen, hätten "den Eindruck, das humanitäre Völkerrecht solle aus dem Krieg eine erträgliche Veranstaltung machen. Das ist aber nicht das Ziel, es möchte das Inhumane im Krieg begrenzen, es soll gebändigt werden."

Auch Pierre Thielbörger, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht in Bochum, meint deshalb, die Konventionen seien zwar eine direkte Reaktion auf die Schrecken des zweiten Weltkriegs, ihre Verfasser dabei gleichwohl – oder gerade deshalb – nicht naiv gewesen: "Allen war bewusst, dass es Kriege auch in der Zukunft geben würde, und auch, dass sich nicht alle daran halten würden. Aber ohne Regeln wären die Grauen des Kriegs noch größer."

Schutz für Verwundete, Gefangene, Mediziner und Zivilisten

Doch wie sehen sie konkret aus, die zivilen Regeln für den Zivilisationsbruch? Die erste Genfer Konvention zum Schutz von Verwundeten und Kranken bei bewaffneten Konflikten stellt die medizinische Versorgung unter besonderen Schutz. Neben den Verwundeten selbst wird auch Sanitätspersonal geschützt – sie sind als Ziele im Krieg tabu. Die zweite Konvention erweitert diesen Schutz für Konflikte auf See.

Besondere Bedeutung haben schließlich die Grundsätze aus der dritten und vierten Genfer Konvention. Erstere betrifft die Behandlung der Kriegsgefangenen, zu denen nicht nur Angehörige von regulären Streitkräften gehören, sondern auch Mitglieder von Milizen oder anderen paramilitärischen Einheiten. Nach der Konvention dürfen Kriegsgefangene nicht unmenschlich behandelt, insbesondere nicht getötet oder gefoltert werden, außerdem gelten für ihre Behandlung gewisse Standards im Hinblick auf Nahrung, Hygiene und medizinische Versorgung. Der umfassende Schutz von zivilen Personen wird schließlich in der vierten Genfer Konvention kodifiziert. Dazu gehören eine Reihe von Menschenrechten wie der Schutz der Familie und die freie Religionsausübung, aber auch der spezifische Schutz von Frauen vor Vergewaltigung und Zwangsprostitution.

1977 schließlich wurden die Abkommen um zwei Zusatzprotokolle ergänzt, die unter anderem den Anwendungsbereich auf Konflikte erweiterten, die nicht klassisch zwischen zwei Staaten ausgetragen werden, und so auch asymmetrische Kriege erfassen. Das erste der beiden Protokolle enthält zudem weitere Vorschriften zum Schutz von Zivilisten und Verletzten. Außerdem untersagt es Kriegshandlungen, "die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen". 

"Eine gemischte Bilanz"

Blickt man sich heute um, so mangelt es nicht an Prüfsteinen für diese hehren Grundsätze. In der Ukraine werden nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen gezielt zivile Ziele für militärische Schläge missbraucht, im Gaza-Konflikt sieht sich die israelische Armee Kritik an ihrem Vorgehen ausgesetzt, das ebenfalls zu viele zivile Opfer fordere. Und das sind nur die beiden in der westlichen Welt aktuell präsentesten Konflikte. Im vergangenen Jahr meldete die Denkfabrik Institute for Economics and Peace, die Zahl der Todesopfer weltweit durch bewaffnete Konflikte sei so hoch wie seit dem Völkermord in Ruanda vor knapp 30 Jahren nicht mehr. Allein der Tigray-Konflikt in Äthiopien forderte demnach 2022 mehr als 100.000 Menschenleben – viele davon Zivilistinnen und Zivilisten, oft auch Frauen und Kinder. In einer Welt, die heute immer noch so brutal Krieg führt, stellt sich also die Frage, was von den großen Hoffnungen, die 1949 mit der Unterzeichnung der Genfer Konventionen einhergingen, eigentlich geblieben ist. 

"Eine gemischte Bilanz" zieht dazu der Bonner Völkerrechtler Herdegen im Gespräch mit beck-aktuell. Man habe damals einen "zivilisatorischen Mindeststandard" für bewaffnete Konflikte geschaffen. Dies allein sei "ein Meilenstein" gewesen, so Herdegen. Es sei wichtig, dass damit bestimmte Arten der Kriegsführung geächtet würden. Doch was nützt es heute, Flächenbombardements und gezielte Angriffe auf Zivilisten zu untersagen, wenn sich die Welt nicht daran hält? Herdegen verweist darauf, dass sich in der Wahrnehmung der heutigen Kriege infolge der völkerrechtlichen Abkommen – die inzwischen auch für Nicht-Unterzeichnerstaaten als Völkergewohnheitsrecht gelten – durchaus einiges geändert habe: "Wenn Russland aktuell in der Ukraine gezielt die Zivilbevölkerung angreift, dann stellt es sich damit außerhalb der Rechtsordnung" so Herdegen. "Gerade deswegen wird das, was Russland macht, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, als Zivilisationsbruch empfunden, als Absturz ins Bodenlose, die Aufkündigung allen Rechtes der zwischenstaatlichen Beziehungen." Gleichwohl, so Herdegen, zeige der Konflikt in der Ukraine, wie verwundbar das humanitäre Völkerrecht sei, wenn eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat es nicht mehr achte. 

In der Tat könnte man meinen: Regeln, die nicht durchgesetzt werden, sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Und eine "Weltpolizei", welche Verstöße gegen die Konvention ahnden könnte, existiert nun einmal nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Institutionen gäbe, die den Staaten bei Kriegen auf die Finger schauen. Zentral ist hierbei der IStGH, der über Völkerrechtsverbrechen wacht und dabei auch die Genfer Konventionen heranzieht. Felix Lange, Völkerrechtler von der Uni Köln, wirbt daher, wie Herdegen, für ein realistisches Verständnis dessen, was das Völkerrecht leisten kann: "Es ist klar, dass das humanitäre Völkerrecht aktuell in besonderem Maße ignoriert und verletzt wird", meint Lange und verweist auf die mutmaßlichen Verbrechen der russischen Armee im ukrainischen Ort Butscha, der zum Symbol für die Gräuel dieses Konflikts geworden ist. "Das Versprechen der Humanisierung des Krieges wirkt da ziemlich leer." Dass der russische Präsident Putin deshalb noch nicht auf der Anklagebank des IStGH sitzt und dies vielleicht auch nie tun wird, ist für ihn dennoch kein Versäumnis des Völkerrechts. Es sei falsch zu erwarten, dass Völkerrecht wie nationales Recht durchgesetzt werden könne. Zudem sehe man auch am Fall Butscha, der etwa durch den UN-Hochkommissar für Menschenrechte untersucht worden sei und zum Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat geführt habe, dass Verstöße Konsequenzen hätten. Auch habe der IStGH inzwischen einen Haftbefehl gegen Präsident Putin erlassen – zwar nicht wegen Zivilistentötungen, aber wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder.

"Wer glaubt, die Etablierung von Regeln allein löst alle Probleme, ist naiv"

Pierre Thielbörger fügt hinzu, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, würden schließlich ausdrücklich mit Russlands Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht begründet. "Außerdem überprüfen Staaten im Falle von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht regelmäßig ihre Unterstützungsleistungen, z.B. Waffenlieferungen." Sein Fazit klingt daher noch etwas positiver, im Großen und Ganzen hätten sich die Hoffnungen erfüllt, die man seinerzeit in die Konventionen gesetzt habe: "Die meisten Konfliktparteien halten sich ja an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Die Medien berichten natürlich nicht über die Fälle, in denen die Regeln befolgt werden, sondern konzentrieren sich verständlicherweise auf die Regelbrüche.“ Dabei seien die Regeln des humanitären Völkerrechts weltweit vielfach Standard für Handbücher und Ausbildung des Militärs geworden. "Wir dürfen also schon annehmen, dass das humanitäre Völkerrecht Kriegsleiden verringert." Dies sei auch die Intention bei ihrer Erschaffung gewesen, so Thielbörger. "Wer glaubt, die Etablierung von Regeln allein löst alle Probleme, derjenige ist naiv."

Wie die Zukunft des Völkerrechts aussieht, ist wohl ebenso unsicher wie die Zukunft der Welt insgesamt. Aktuell spricht jedoch nicht viel dafür, dass die nächsten Jahre zu einer Stärkung von Regeln für internationale Konflikte führen werden. Felix Lange glaubt: "Man muss mit der Krise des Völkerrechts wohl erst einmal leben. Für wichtige Staaten wie China oder Russland spielen Menschenrechte nicht die gleiche prägnante Rolle wie für uns. Und China wird geopolitisch noch an Einfluss gewinnen." Die Grundstimmung der 90er Jahre – eine Zeit, die mit der Verabschiedung des Römischen Statut des IStGH, der Gründung der Welthandelsorganisation und der Annahme des Kyoto-Protokolls zur Klimarahmenkonvention eine völkerrechtliche Aufbruchstimmung erlebte – sei gegenwärtig passé. "Man wünscht sich mehr, aber das Völkerrecht ist nur so stark, wie die Akteure, die dahinterstehen."

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 12. August 2024.