Fran­zö­si­scher Chir­urg ge­steht Miss­brauch: "Ab­scheu­li­che Taten"

Es ist der wohl grö­ß­te Pro­zess um Kin­des­miss­brauch in Frank­reich: Ein Chir­urg ge­steht den hun­dert­fa­chen Miss­brauch an meist jun­gen Pa­ti­en­ten. Vor Ge­richt er­in­nert sich ein Opfer an seine Panik.

Fast 300 Opfer lis­tet die An­kla­ge auf, ihr Durch­schnitts­al­ter be­trug elf Jahre. Die er­schüt­tern­de Trag­wei­te des Pro­zes­ses um hun­dert­fa­chen Miss­brauch gegen einen Chir­ur­gen in Frank­reich wird gleich zum Auf­takt im Ge­richts­saal spür­bar, als ein jun­ger Mann an das Mi­kro­fon tritt. "Ich er­in­ne­re mich in Tei­len an die Taten im Auf­wach­saal und wie ich in Panik nach mei­nem Vater rief", sagt der Mann mit lan­gem Bart mit kla­rer Stim­me. Zu dem Miss­brauch an ihm kam es der An­kla­ge zu­fol­ge 1995, als klei­nes Kind war er da­mals Pa­ti­ent des Arz­tes, den Jus­tiz­wär­ter kurz zuvor zur An­kla­ge­bank ge­führt haben.

Über Jahr­zehn­te soll der Chir­urg in West­frank­reich junge Pa­ti­en­ten – oft wäh­rend der Nar­ko­se – miss­braucht und dar­über akri­bisch Ta­ge­buch ge­führt haben. Wegen Ver­ge­wal­ti­gung und se­xu­el­len Miss­brauchs von 299 meist min­der­jäh­ri­gen und be­wusst­lo­sen Pa­ti­en­ten steht der heute 74-Jäh­ri­ge im west­fran­zö­si­schen Van­nes vor Ge­richt. Zwi­schen 1989 und 2014 soll er laut An­kla­ge ins­ge­samt 158 Pa­ti­en­ten und 141 Pa­ti­en­tin­nen miss­braucht haben.

Nach der Ver­le­sung der An­kla­ge und der Namen aller Opfer legt der 74-Jäh­ri­ge ein Ge­ständ­nis ab. "Ich habe ab­scheu­li­che Taten be­gan­gen", sagt der un­schein­bar wir­ken­de Rent­ner mit ge­senk­tem Kopf. "Mir ist heute klar, dass diese Ver­let­zun­gen nicht weg­ge­wischt wer­den kön­nen und auch nicht re­pa­rier­bar sind", meint der Me­di­zi­ner. "Ich muss die Ver­ant­wor­tung für meine Taten tra­gen und die Kon­se­quen­zen für die Opfer, die sie ihr Leben lang haben wer­den."

Zum Zeit­punkt des vor­ge­wor­fe­nen Miss­brauchs be­fan­den sich viele Opfer etwa nach einer Blind­darm­ope­ra­ti­on im Ope­ra­ti­ons­saal, in der Phase der An­äs­the­sie, des Auf­wa­chens, der Se­die­rung oder des Ein­schla­fens, wie die Staats­an­walt­schaft mit­teil­te. Sie waren sich des Miss­brauchs somit nicht wirk­lich be­wusst und konn­ten den Arzt spä­ter auch schwer an­zei­gen. Er soll seine Opfer mit den Hän­den pe­ne­triert und seine Hand­lun­gen oft als me­di­zi­ni­sche Un­ter­su­chung ka­schiert haben, hieß es in der An­kla­ge­schrift.

An­ge­klag­ter führ­te über Miss­brauch akri­bisch Buch

Den jahr­zehn­te­lan­gen Miss­brauch hielt der Arzt de­tail­reich in Ta­ge­bü­chern fest, die Fahn­der bei einer Durch­su­chung si­cher­stell­ten, eben­so wie rund 300.000 kin­der­por­no­gra­fi­sche Fotos und Pup­pen. In den Ta­ge­bü­chern war auch die Rede von se­xu­el­len Hand­lun­gen an Pup­pen und Tie­ren.

In 111 Fäl­len wird dem Arzt schwe­re Ver­ge­wal­ti­gung an­ge­las­tet, so die Staats­an­walt­schaft. Gut­ach­ter stell­ten bei den Op­fern post­trau­ma­ti­sche Syn­dro­me, Blo­cka­den und kör­per­li­che Be­schwer­den in­fol­ge psy­cho­lo­gi­scher Be­las­tun­gen fest. Teils tra­ten diese auch erst ein, nach­dem die Er­mitt­ler die Opfer auf­such­ten und ihnen of­fen­bar­ten, dass sie in ihrer Kind­heit Miss­brauchs­op­fer ge­wor­den waren.

Wegen vier Miss­brauchs­fäl­len war der Arzt 2020 be­reits zu 15 Jah­ren Haft ver­ur­teilt wor­den. Ins Rol­len ge­bracht hatte die Er­mitt­lun­gen 2017 die An­zei­ge einer Nach­ba­rin, deren sechs­jäh­ri­ge Toch­ter der Arzt im Gar­ten miss­brauch­te. 2005 schon war der Me­di­zi­ner wegen des Be­sit­zes kin­der­por­no­gra­fi­scher Bil­der zu einer Be­wäh­rungs­stra­fe ver­ur­teilt wor­den, ohne dass dies dis­zi­pli­na­ri­sche Kon­se­quen­zen für seine Tä­tig­keit als Arzt hatte.

Kaum ein Kol­le­ge in der Kli­nik schöpf­te Ver­dacht

Wieso das Tun des Arz­tes in den vie­len Jah­ren nicht in einer der Kli­ni­ken auf­fiel, in denen er ar­bei­te­te – auch die­ser Frage gin­gen die Er­mitt­ler nach. Wie die Zei­tung "Le Monde" unter Ver­weis auf die Er­mitt­lun­gen be­rich­te­te, hatte von den rund 100 be­frag­ten Kol­le­gen des An­ge­klag­ten kei­ner einen kon­kre­ten Ver­dacht. Le­dig­lich zwei Ärz­ten kam der Chir­urg ko­misch vor – Hin­wei­se dar­auf an hö­he­rer Stel­le blie­ben aber ohne Re­ak­ti­on. Auch seine Ex-Frau will von dem fort­ge­setz­ten Miss­brauch erst bei der Fest­nah­me ihres frü­he­ren Gat­ten er­fah­ren haben.

Ir­gend­wel­che Skru­pel an­ge­sichts sei­ner Taten hatte der Chir­urg wohl nicht. "Wäh­rend ich meine Mor­gen­zi­ga­ret­te rauch­te, dach­te ich dar­über nach, dass ich ein gro­ßer Per­ver­ser bin", zi­tier­te "Le Monde" einen Ta­ge­buch­ein­trag des An­ge­klag­ten aus dem Jahr 2004. Er sei Ex­hi­bi­tio­nist, Voy­eur, Sa­dist, Ma­so­chist, Fe­ti­schist und Pä­do­phi­ler. "Und ich bin sehr glück­lich damit."

Rie­sen­pro­zess mit Hun­der­ten Be­tei­lig­ten

Um die dem Arzt an­ge­las­te­ten Taten im bis­lang wohl grö­ß­ten Pro­zess in Frank­reich um Kin­des­miss­brauch auf­zu­ar­bei­ten, wur­den in der Pro­vinz­stadt Van­nes ei­gens Ge­bäu­de in der Nähe des Ge­richts mit Mil­lio­nen­auf­wand her­ge­rich­tet. Sie müs­sen den knapp 300 Op­fern und ihren An­wäl­ten Platz bie­ten. 265 Jour­na­lis­ten haben sich für den Pro­zess an­ge­mel­det. Das Ver­fah­ren soll bis Juni dau­ern. Dem pen­sio­nier­ten Arzt dro­hen bis zu 20 Jahre Haft.

Das Ge­richts­ver­fah­ren in West­frank­reich ist der zwei­te große Miss­brauchs­pro­zess in Frank­reich bin­nen ei­ni­ger Mo­na­te. Kurz vor Weih­nach­ten war der Pro­zess von Avi­gnon ge­en­det. Wegen schwe­rer Ver­ge­wal­ti­gung zu 20 Jah­ren Haft ver­ur­teil­te das Ge­richt einen Rent­ner, der seine da­ma­li­ge Frau über Jahre hin­weg immer wie­der mit Me­di­ka­men­ten be­täub­te, miss­brauch­te und von Dut­zen­den Frem­den ver­ge­wal­ti­gen ließ. 50 mit­an­ge­klag­te Män­ner ver­ur­teil­te das Ge­richt zu Haft­stra­fen zwi­schen drei und 15 Jah­ren.

Michael Evers, 25. Februar 2025 (dpa).

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