Die sogenannten Dieselverfahren beschäftigen seit nahezu 10 Jahren die Beteiligten und die Gerichte. Zu einer Haftung von Fahrzeugherstellern wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen, die insbesondere den Ausstoß von Stickoxiden auf dem Prüfstand reduzieren, sind eine Vielzahl obergerichtlicher Entscheidungen ergangen. Wegen der Auslegungshoheit des EuGH hinsichtlich der maßgeblichen europäischen Richtlinien und Verordnungen schauen die Beteiligten je nach Rechtsstandpunkt eher mit Hoffnung oder eher mit Sorge auf die Rechtsprechung des EuGH zu diesen Fragen.
In dem Fall, zu dem der Generalanwalt am Donnerstag seine Schlussanträge vorgelegt hat, hatte das LG Duisburg eine Reihe von Fragen ungeklärt gesehen und den EuGH um Präzisierung seiner Rechtsprechung – insbesondere der maßgeblichen Entscheidung aus dem Jahr 2023 (Urteil vom 21.03.2023 - C-100/21) – zum Vorhandensein von Abschalteinrichtungen gebeten. Klärungsbedürftig schien ihm auch die Frage, ob ein Dieselfahrzeug dem EU-Recht widerspricht, wenn der Motor im warmen Zustand selbst im Prüflauf nach dem NEFZ mehr als 180 mg/km Stickoxide ausstößt.
Nach Erlass der maßgeblichen Grundsatzentscheidungen des BGH im vergangenen Jahr (Urteile vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) hat das LG Duisburg dem EuGH nun weitere Fragen zur Bestimmung des Schadensersatzes nach nationalem Recht und zur Beweislastverteilung vorgelegt. Generalanwalt Rantos hat in seinen Schlussanträgen auch eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH vorgeschlagen.
Emissionsgrenzwert muss im realen Fahrbetrieb eingehalten werden
Voraussetzung für die Erteilung der beantragten Typgenehmigung für Fahrzeuge ist, dass ein typisiertes Fahrzeug den entsprechenden Prüfzyklus (hier NEFZ) durchläuft und die vorgegebenen Grenzwerte für den Ausstoß schädlicher Emissionen eingehalten werden. Der hierauf bezogenen Frage des LG Duisburg kommt eine besondere Brisanz zu, weil zugelassene Dieselfahrzeuge zwar regelmäßig die Normwerte im Prüfzyklus einhalten, diese dann aber im normalen Fahrbetrieb durch einen Großteil der Fahrzeuge - oft um ein Mehrfaches - überschritten werden.
Generalanwalt Rantos hat sie unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen des EuGH beantwortet: Gesetzlich vorgegebene Emissionsgrenzwerte würden dann nicht eingehalten, wenn das warmgelaufene Fahrzeug (das der Euro 5-Norm unterliegt) mehr als 180 mg/km an Stickoxiden ausstößt, wenn es in diesem Zustand den Fahrzyklus durchfährt. Denn die europarechtlichen Normen stellten inhaltlich auf den normalen Fahrbetrieb ab, den der zu durchlaufende Fahrzyklus auch abbilden solle. Dies solle auch unabhängig davon gelten, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung in dem Fahrzeug enthalten ist.
Dem Argument, dass die Verringerung einer Schadstoffemission technisch oft nur durch die Erhöhung einer anderen Emission zu erreichen sei, hat der Generalanwalt eine Absage erteilt. Seiner Rechtsauffassung nach darf es nicht darauf ankommen, ob der Ausstoß anderer schädlicher Substanzen verringert wird. Eine Abschalteinrichtung hielte die Emissionsgrenzwerte viel mehr dann nicht ein, wenn sich hierdurch die Emission auch nur einer schädlichen Substanz grundsätzlich erhöhe.
Generalanwalt: Hersteller muss einen Teil der Beweislast tragen
Wie Schadensersatzansprüche prozessual geltend gemacht werden, insbesondere die Beweislastregelungen und die Bemessung des Schadens, ist grundsätzlich dem nationalen Recht vorbehalten. Allerdings hat der EuGH in früheren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass er nationale Vorschriften für unionsrechtswidrig erachtet, die es dem Käufer praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, einen angemessenen Schadensersatz zu erhalten. Dies folge aus dem Effektivitätsgrundsatz, also der erschöpfenden Anwendung des unionsrechtlichen Rechtsrahmens auf einen Sachverhalt.
Generalanwalt Rantos hat vor diesem Hintergrund darauf hingewiesen, dass nach deutschem Recht sowohl einer Partei die Vorlage von Unterlagen aufgegeben werden kann als auch die Möglichkeit bestehe, eine Partei von der Entrichtung von Sachverständigenkosten im Voraus zu entpflichten. Vor diesem Hintergrund hat er vorgeschlagen, nationale Regelungen dann als unionsrechtswidrig anzusehen, wenn sie dem Käufer die volle Beweislast dazu auferlegen, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden sei und ob diese durch eine Ausnahmegenehmigung zulässig sei, wenn nicht der Hersteller des Fahrzeugs Informationen beisteuere.
"Differenzschaden" auf dem Prüfstand
Mit seinen Leitentscheidungen vom 26. Juni 2023 hat der BGH - in Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung – die Möglichkeit des Ersatzes eines "Differenzschadens" etabliert. Durch die Vorlage des LG Duisburg war diese Rechtsprechung erstmals auf dem Prüfstand. Ihre (endgültige) Beantwortung ist von erheblicher Wichtigkeit für die gerichtliche Praxis.
Der Generalanwalt hat hierzu vorgeschlagen, dass der Erwerber grundsätzlich einen Anspruch auf Erstattung der ihm entstandenen Vermögensdifferenz hat. Ein Schaden des Käufers folge daraus, dass er ein Fahrzeug erworben habe, das mit einem Mangel behaftet sei und daher einen geringeren Wert habe. Aus dem Unionsrecht ergebe sich aber keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen Anspruch in voller Höhe der Erwerbskosten zu schaffen, wenn die unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung lediglich fahrlässig erteilt wurde.
Generalanwalt will 15%-Grenze nicht bewerten
Schließlich hatte das LG Duisburg dem EuGH auch die Frage gestellt, ob der Schadensersatzanspruch des Auto-Käufers auf höchstens 15% des Kaufpreises begrenzt werden darf. Diese Grenze hatte der BGH in seiner „Differenzschaden“-Entscheidung festgelegt. Das hat der Generalanwalt aber nicht beantwortet. In seinen Schlussanträgen führt er aus, in der LG-Vorlage werde nicht dargetan, dass den beiden Käufern ein 15% des jeweiligen Kaufpreises übersteigender Schaden entstanden sei. Deshalb sei die Frage hypothetisch und damit unzulässig.
Sollte der EuGH den Vorschlägen des Generalanwalts Rantos folgen, dürfte dies den Kreis der Anspruchsberechtigten wegen der Herstellung und des Vertriebs unionsrechtswidriger Fahrzeuge erheblich ausweiten. Die in der Praxis bislang häufige Diskussion um das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung könnte dann dahin erweitert werden, welcher Gesamtausstoß an Schadstoffen bei dem Fahrzeug gegeben ist. Hinsichtlich der Bestimmung eines hieraus resultierenden Schadens und der Höhe eines Schadensersatzanspruchs ergibt sich aus den Schlussanträgen nur eine teilweise Klärung. Das Kapitel "Diesel-Skandal" ist damit noch lange nicht abgeschlossen.
Dr. Bruno Menhofer ist Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Sein Zivilsenat ist regelmäßig mit der Bearbeitung sogenannter "Dieselklagen" befasst.