BGH ändert seine Rechtsprechung in Dieselfällen
bundesgerichtshof_CR  nmann77 adobe
© nmann77 / stock.adobe.com
bundesgerichtshof_CR nmann77 adobe

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs stand einiges auf dem Spiel und schon bei der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof ging es hoch her: Nun hat der BGH die Hürden für Schadenersatz-Klagen von Diesel-Käufern in Deutschland deutlich gesenkt. Autobauer müssen demnach auch dann zahlen, wenn sie fahrlässig gehandelt haben, so das Gericht am Montag. Was das in jedem Einzelfall bedeutet, ist noch offen, die Vorinstanzen müssen noch einmal ran.

Dieselsenat muss auf EuGH reagieren

Der zuständige Diesel-Senat hat seine bisherige Rechtsprechung angepasst und eine Entscheidung des EuGH auf nationales Recht umgelegt. Die Luxemburger Richter hatten nämlich im März die Hürden für Schadenersatz-Klagen deutlich niedriger angesetzt als der BGH bisher. Auch Fahrlässigkeit kann demnach einen Anspruch auslösen - nicht nur wie bislang absichtliche und bewusste Schummelei wie beim VW-Skandalmotor E189. Das bedeutete neue Hoffnung auch für Betroffene, die Dieselautos anderer Hersteller erworben hatten. Bei der Verhandlung am 08.05.2023 war anhand von drei Musterfällen zu Autos von Mercedes, Audi und VW stundenlang diskutiert worden, wie mit von Klägern dabei angeprangerten Abschalteinrichtungen umzugehen ist. Zig Fragen blieben zu klären: Hebelt eine Typ-Genehmigung durch Behörden wie das Kraftfahrtbundesamt (KBA) Ansprüche von Klägern aus? Ist dem Käufer überhaupt ein finanziell messbarer Schaden entstanden, wenn Softwareupdates Abschalteinrichtungen entfernen? Was ist zumutbar und fair für Hersteller wie auch Kunden bei der Berechnung und Ermittlung von Schadenersatz?

Drei Musterfälle

Drei Musterfälle (Az.: VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) waren verhandelt worden: Zum einen ging es um einen Mercedes-Diesel mit einem Thermofenster. Das Thermofenster sorgt dafür, dass die Verbrennung von Abgasen je nach Außentemperatur zeitweise gedrosselt wird. Unabhängig vom Hersteller sind Thermofenster bei Diesel-Autos weit verbreitet. Der zweite Kläger hatte einen VW Passat mit dem Motor EA288 gekauft. Der Motor steckt in Millionen Dieselfahrzeugen und ist ein Nachfolger des Skandalmotors EA189. Das Auto hat neben einem Thermofenster auch eine Fahrkurvenerkennung. Das dritte Auto ist ein Audi mit einem leistungsstarken Motor (EA896Gen2BiT). Hier hatte das KBA eine Abschalteinrichtung beanstandet und ein Software-Update angeordnet - noch bevor der Kläger das Auto kaufte.

Drei Aufhebungen

Der BGH hat auf die Revisionen der Kläger die Berufungsurteile in allen drei Verfahren aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, damit die Berufungsgerichte eine Haftung der beklagten Fahrzeughersteller aus unerlaubter Handlung weiter aufklären. Dabei hat er im Verfahren VIa ZR 335/21 bestätigt, dass die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung einem Anspruch aus §§ 826, 31 BGB gegen den Fahrzeughersteller nicht entgegengehalten werden kann. Im Verfahren VIa ZR 533/21 hat er die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer haftungsausschließenden Verhaltensänderung des Fahrzeugherstellers bekräftigt. Außerdem hat er – ausführlich begründet im Verfahren VIa ZR 335/21 – für eine Haftung der Fahrzeughersteller nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 21.03.2023 (NJW 2023, 1111) die im Folgenden erläuterten Grundsätze aufgestellt.

Bei Fahrlässigkeit kein großer Schadensersatz

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21. März 2023 aus dem Gesamtzusammenhang des unionsrechtlichen Regelungsgefüges gefolgert, dass der Käufer beim Erwerb eines Kraftfahrzeugs, das zur Serie eines genehmigten Typs gehört und mit einer Übereinstimmungsbescheinigung versehen ist, vernünftigerweise erwarten kann, dass die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 eingehalten ist. Wird er in diesem Vertrauen enttäuscht, kann er von dem Fahrzeughersteller, der die Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat, Schadensersatz nach Maßgabe des nationalen Rechts verlangen. Zu gewähren ist allerdings, wenn der Fahrzeughersteller den Käufer nicht sittenwidrig vorsätzlich geschädigt hat, in Übereinstimmung mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, die zu ändern der BGH keine Veranlassung hat, nicht großer Schadensersatz. Der Käufer kann auf der Grundlage der § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV im Falle der Enttäuschung seines auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung gestützten Vertrauens – anders als bei einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung durch den Fahrzeughersteller und auf der Grundlage der §§ 826, 31 BGB – nicht verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug übernimmt und den Kaufpreis abzüglich vom Käufer erlangter Vorteile erstattet. Ein solcher Anspruch, der im Kern nicht den Vermögensschaden, sondern die freie Willensentschließung des Käufers schützt, kommt nur bei einem im Sinne von §§ 826, 31 BGB arglistigen Verhalten des Fahrzeugherstellers in Betracht.

Schaden durch drohende Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung

Für § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass ein Schadensersatzanspruch nach dem maßgeblichen nationalen Recht eine Vermögensminderung durch die enttäuschte Vertrauensinvestition bei Abschluss des Kaufvertrags über das Kraftfahrzeug voraussetzt. Da der EuGH bei der Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs auf das nationale Recht verwiesen hat, konnte der Bundesgerichtshof auf die allgemeinen Grundsätze des deutschen Schadensrechts zurückgreifen, die auch bei einem fahrlässigen Verstoß gegen das europäische Abgasrecht einen effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzanspruch gewähren. Dabei hatte der Bundesgerichtshof davon auszugehen, dass die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs Geldwert hat. Deshalb erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht. Zugunsten des Käufers greift der Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte.

Darlegungs- und Beweislast

Das Vorhandensein der Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 als solcher muss im Prozess der Käufer darlegen und beweisen, während die ausnahmsweise Zulässigkeit einer festgestellten Abschalteinrichtung aufgrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen muss. Stellt der Tatrichter das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung fest, muss der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen, dass er bei der Ausgabe der Übereinstimmungsbescheinigung weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Beruft sich der Fahrzeughersteller zu seiner Entlastung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, gelten dafür die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung allgemein entwickelten Grundsätze. Kann sich der Fahrzeughersteller von jedem Verschulden entlasten, haftet er nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht. Das deutsche Recht der unerlaubten Handlung setzt für eine deliktische Haftung des Schädigers stets ein Verschulden voraus. Eine verschuldensunabhängige deliktische Haftung können deutsche Gerichte, die auch nach den Vorgaben des EuGH im Rahmen des geltenden nationalen Rechts zu entscheiden haben, nicht anordnen.

5% bis 15% des Kaufpreises minus Vorteilsausgleich

Der dem Käufer zu gewährende Schadensersatz muss nach den Vorgaben des EuGH einerseits eine effektive Sanktion für die Verletzung des Unionsrechts durch den Fahrzeughersteller darstellen. Andererseits muss der zu gewährende Schadensersatz – so die zweite Vorgabe des EuGH – den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dem einzelnen Käufer ist daher stets und ohne, dass das Vorhandensein eines Schadens als solches mittels eines Sachverständigengutachtens zu klären wäre oder durch ein Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden könnte, ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten Kaufpreises zu gewähren. Innerhalb dieser Bandbreite obliegt die genaue Festlegung dem Tatrichter, der sein Schätzungsermessen ausüben kann, ohne sich vorher sachverständig beraten lassen zu müssen. Auf den vom Tatrichter geschätzten Betrag muss sich der Käufer Vorteile nach Maßgabe der Grundsätze anrechnen lassen, die der Bundesgerichtshof für die Vorteilsausgleichung auf der Grundlage der Gewähr kleinen Schadensersatzes nach §§ 826, 31 BGB entwickelt hat.

Tausende Fälle warten jetzt auf Fortsetzung

Die Kläger werden in allen Verfahren Gelegenheit haben, ihre Anträge anzupassen, soweit sie einen Differenzschaden nach diesen Maßgaben geltend machen wollen. Die Parteien haben nach einer Zurückverweisung der Sachen Gelegenheit, zu den Voraussetzungen einer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ergänzend vorzutragen. Wegen des EuGH-Urteils liegen derzeit etwa 2000 Fälle am BGH auf Eis. Zehntausende Fälle sind bei den unteren Instanzgerichten anhängig. Sie dürften die vom BGH angedachte pauschalierte Regelung zum Schadenersatz begrüßen. Experten rechnen damit, dass Dieselklagen auf dieser Basis künftig schneller und einfacher entschieden werden können.

BGH, Urteil vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21

Redaktion beck-aktuell, 26. Juni 2023 (ergänzt durch Material der dpa).