Mitgliedstaaten müssen Grundbedürfnisse von Asylbewerbern decken

EU-Staaten können sich nicht auf einen plötzlichen Zustrom von Geflüchteten berufen, um Asylbewerber nicht menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Ein Verstoß kann Schadensersatzansprüche begründen, urteilt der EuGH; womöglich auch gegen deutsche Behörden.

Neben der Missbilligung der italienischen Regelung zu sicheren Herkunftsstaaten hat der EuGH am Donnerstag eine weitere Entscheidung zum Asylrecht getroffen. In einem Verfahren aus Irland stellten die Richterinnen und Richter in Luxemburg klar, dass die EU-Staaten die Grundbedürfnisse von Asylbewerbern decken müssen, selbst wenn ein massiver Zustrom von Geflüchteten die Aufnahmekapazitäten im Land vorübergehend vollständig auslasten sollte. Der Gerichtshof betonte, dass ein Verstoß gegen diese Pflicht zu einer Haftung des Mitgliedstaats führen könne (Urteil vom 0108.2025 - C-97/24).

Das Hohe Gericht in Irland hatte dem EuGH zwei Klagen auf Schadensersatz von Asylbewerbern vorgelegt, die in Irland auf der Straße gelebt und nach eigenen Angaben nicht immer genug zu essen gehabt hatten. Sie hätten ihre Hygiene nicht wahren können und seien auf der Straße Gewalt ausgesetzt gewesen – eine Notlage, trugen der afghanische und der indische Staatsangehörige vor. Die irischen Behörden hatten ihnen zwar jeweils einen Einzelgutscheine über 25 Euro ausgehändigt, aber keine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Weil sie nicht in einem Aufnahmezentrum untergebracht waren, hatten die beiden Männer keinen Anspruch auf die im irischen Recht vorgesehenen Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, schliefen draußen und litten unter mangelnder Ernährung und Hygiene.

Die Behörden begründeten ihre Entscheidung damit, dass die Aufnahmezentren in Irland aufgrund eines massiven Zustroms von Drittstaatsangehörigen nach dem Überfall auf die Ukraine vorübergehend belegt gewesen seien – höhere Gewalt. Dass die Männer auch anderweitig, zum Beispiel in privaten Unterkünften, nicht hätten untergebracht werden können oder dass die irischen Behörden objektiv nicht in der Lage gewesen wären, ihnen materielle Leistungen zu gewähren, behaupteten die Behörden selbst nicht, sie erkannten einen Verstoß gegen das Unionsrecht an. Das Hohe Gericht in Irland wollte vom EuGH wissen, ob unter diesen Umständen die Haftung des Staates ausgeschlossen werden kann.

Keine Ausnahme selbst bei plötzlichem Massenzustrom

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2013/33/EU verpflichtet sind, Asylbewerbern materielle Leistungen zu gewähren, die einen angemessenen Lebensstandard sicherstellen. Ob Unterkunft, Geldleistungen, Gutscheine oder eine Kombination daraus: Die Leistungen müssten die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen decken und deren physische und psychische Gesundheit schützen. Ein Mitgliedstaat, der das - auch nur vorübergehend – nicht tue, überschreite erheblich den Spielraum, der ihm bei der Anwendung der Richtlinie eingeräumt sei, urteilt der EuGH deutlich.

Auch die eng begrenzte Ausnahmeregelung, aufgrund derer Staaten Aufnahmemodalitäten anpassen dürfen, wenn ihre Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind, darf laut dem Gerichtshof nur ausnahmsweise und nur zeitlich begrenzt angewandt werden.

Und selbst wenn ein massiver und unvorhersehbarer Zustrom von Geflüchteten die Aufnahmekapazitäten vorübergehend voll auslasten würde, müssten die Mitgliedstaaten die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen decken, betont der EuGH. Kein Mitgliedstaat dürfe sich dieser Pflicht entziehen. Eine andere Auslegung würde, so die Richterinnen und Richter, die praktische Wirksamkeit der Regelung und den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz der Asylbewerber gefährden.

Migrationsrechtler: Leistungsausschluss auch in Deutschland europarechtswidrig

Für Constantin Hruschka zeigt das Urteil gegen Irland, "dass die Mitgliedstaaten unter keinen Umständen, also auch nicht bei einer überraschenden Überlastung der Aufnahmesysteme, die Grundleistungen einstellen dürfen". Eine Berufung auf eine Notlage oder höhere Gewalt komme nicht infrage, wenn die Konsequenz die mangelnde Deckung der elementaren Grundbedürfnisse wäre.

Der Migrationsrechtler von der EH Freiburg sieht im Gespräch mit beck-aktuell in dem Urteil des EuGH eine Bestätigung, dass auch eine deutsche Regelung europarechtswidrig sei: § 1 Abs. 4 AsylbLG sehe für Personen mit einem negativen Dublin-Bescheid genau einen solchen Ausschluss aus dem Leistungssystem vor, so Hruschka, und wolle die Bedarfsdeckung ausschließen. "Jetzt ist noch klarer als zuvor schon, dass dieser Ausschluss europarechtswidrig ist". Der EuGH beziehe sich dabei auch auf seine Entscheidung GISTI (Anm. d. Red.: Urteil vom 27.09.2012 - C-179/11), die verdeutliche, dass auch Personen mit einem negativen Dublin-Bescheid nach EU-Recht als Asylsuchende gelten, da sie nur im falschen Staat, aber weiterhin im Asylverfahren auf EU-Ebene sind.

Hruschka erkennt nach dem Urteil des EuGH auch ein erhöhtes Risiko für Behörden, die Asylbewerberinnen und -bewerbern europarechtswidrig Leistungen verweigern. Laut dem Gerichtshof kann ein Mitgliedstaat, der Asylbewerber nicht ausreichend versorgt, einen qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begehen, der auch zu einer Haftung des Mitgliedstaats führt. "Weil der EuGH bei offensichtlichen Verstößen gegen das Existenzsicherungsrecht neben der Leistungsgewährung auch einen Schadensersatzanspruch für gegeben ansieht, müssen Behörden, die rechtswidrig Menschen vom Leistungsbezug ausschließen, künftig nicht nur Leistungen gewähren, sondern unter Umständen auch Schadensersatz leisten", erläutert Hruschka. Für zahlreiche Klagen vor deutschen Sozialgerichten gegen Leistungsausschlüsse unter Berufung auf § 1 Abs. 4 AsylbLG habe das Urteil aus Luxemburg mehr als nur Signalwirkung. 

EuGH, Urteil vom 01.08.2025 - C-97/24

Redaktion beck-aktuell, pl, 1. August 2025.

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