Polnische Gerichte seien nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, Entscheidungen des Obersten Gerichts zu ignorieren, meint EuGH-Generalanwalt Dean Spielmann in seinen Schlussanträgen vom Donnerstag. Grund sind rechtsstaatliche Mängel bei dessen Besetzung (Schlussanträge vom 10.04.2025 - C-225/22).
Im Oktober 2021 hatte die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichts ein Urteil aus dem Jahr 2006 aufgehoben und zur erneuten Prüfung an ein Zivilgericht zurückverwiesen. Der zuständige Richter dort hatte jedoch Zweifel – allerdings nicht vordergründig am Inhalt der Entscheidung, sondern an der Besetzung des Spruchkörpers des Obersten Gerichts. Aufgrund von Unregelmäßigkeiten des Verfahrens zur Ernennung der Richterinnen und Richter sei es möglich, dass es dem Erfordernis eines "unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gerichts" im Sinne des Unionsrechts nicht genüge.
Was ist ein "durch Gesetz errichtetes Gericht"?
Dem Richter stellte sich damit die Frage, ob er befugt sei, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des höherrangigen Gerichts zu überprüfen und welche Auswirkungen es auf die Entscheidungen der Kammer hätte, wenn es sich nicht um ein "durch Gesetz errichtetes Gericht" handelte. Mit seinen Fragen wandte er sich an den EuGH.
EuGH-Generalanwalt Spielmann betonte nun in seinen Schlussanträgen die Bedeutung von unabhängigen und unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gerichten für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz. Weil das Ernennungsverfahren von zentraler Bedeutung für die Legitimität der Justiz sei, stelle es auch einen integralen Bestandteil des Begriffs "durch Gesetz errichtetes Gericht" dar.
Daher sei jedes Gericht – unabhängig von Hierarchien – verpflichtet, über die Einhaltung dieser Erfordernisse zu wachen. Das umfasse die Prüfung seiner eigenen ordnungsgemäßen Zusammensetzung wie auch der anderer Gerichte.
"Schwere Krise" des polnischen Rechtsstaats erlaubt es, Rechtskraft zu ignorieren
Spielmann ist – unter Bezug auf die ständige Rechtsprechung des EuGH – der Meinung, dass es sich bei der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichtes nach allen Umständen nicht um ein ordnungsgemäß errichtetes Gericht handele. Die nationalen Gerichte seien, so Spielmann, dazu verpflichtet, die von dieser Stelle ergangenen Entscheidungen unangewendet zu lassen oder sie als nicht existent anzusehen.
Die Rechtskraft der in Rede stehenden Entscheidung ändere nichts an dieser Beurteilung, denn angesichts der "schweren Krise" des polnischen Rechtsstaats trüge es nicht dazu bei, das Vertrauen in die Justiz wieder zu stärken, würde man den Grundsatz der Rechtskraft über den effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes stellen.