Polen: Urteil der Kammer des Obersten Gerichts "nicht existent"?

Polnische Gerichte können ein Urteil der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts aus 2021 wohl ignorieren. Der EuGH hatte 2023 entschieden, dass die Kammer kein Gericht im Sinn des Unionsrechts ist. Das vorlegende Gericht muss nun noch prüfen, ob dieses Verdikt auch für das Jahr 2021 gilt. 

Die Kammer hatte im Oktober 2021 ein rechtskräftiges Urteil von 2006 aufgehoben, mit dem das Inverkehrbringen bestimmter Kreuzworträtsel-Zeitschriften verboten worden war, und die Sache an ein Zivilgericht zurückverwiesen.

Das Zivilgericht will das Urteil unberücksichtigt lassen. Denn die betreffende Kammer ist aus ihrer Sicht kein Gericht im Sinne des Unionsrechts, da das Verfahren der Ernennung der dortigen Richter nicht ordnungsgemäß abgelaufen sei. Das Zivilgericht ist sich aber nicht sicher, ob es die Besetzung eines höheren Gerichts überhaupt überprüfen darf. Eine nationale Regelung schließe dies aus; entsprechend habe der polnische VerfGH entschieden.

EuGH: Zivilgericht muss Besetzung der Kammer überprüfen

Um Aufschluss über das Unionsrecht zu erhalten, hat sich das polnische Zivilgericht an den EuGH gewandt. Dieser positioniert sich eindeutig (Urteil vom 04.09.2025 – C-225/22): Das nationale Gericht dürfe nicht außer Acht lassen kann, dass die betreffende Kammer des polnischen Obersten Gerichts, wie der EuGH bereits entschieden habe, nicht unabhängig, unparteiisch und zuvor durch Gesetz errichtet und damit kein Gericht ist.

Das nationale Gericht müsse daher überprüfen, ob die Richter des Spruchkörpers, der das Urteil vom Oktober 2021 erlassen hat, ordnungsgemäß ernannt worden sind. Der betreffende Spruchkörper sei bereits dann kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts, wenn ihm auch nur ein einziger Richter angehöre, dessen Ernennung diesen Anforderungen nicht genügt.

Wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und der Verbindlichkeit der Entscheidungen des EuGH könne einer solchen Überprüfung weder die nationale Regelung noch die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs entgegenstehen, verdeutlicht der EuGH.

Gelange das Zivilgericht zu dem Ergebnis, dass die Kammer kein Gericht ist, müsse sie dessen Entscheidung als nicht existent ansehen, sofern dies erforderlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten. Daran, so der EuGH, könne keine Erwägung, die auf dem Grundsatz der Rechtssicherheit beruht oder mit einer behaupteten Rechtskraft zusammenhängt, etwas ändern.

EuGH, Urteil vom 04.09.2025 - C-225/22

Redaktion beck-aktuell, bw, 4. September 2025.

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