Seinen sozialen Frieden und Wohlstand hat Deutschland nicht unwesentlich dem Grundsatz der Tarifautonomie zu verdanken – grundgesetzlich abgesichert als "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" (Art. 9 Abs. 3 GG) durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Historisch betrachtet gehen zahlreiche Rahmenbedingungen, die heute wie selbstverständlich die Arbeitswelt prägen, auf tarifautonome Regelungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zurück – wie der Acht-Stunden-Tag oder die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Gedanke von Tarifautonomie ist, dass einzelne Arbeitnehmende in Verhandlungen mit Unternehmen strukturell unterlegen sind, sodass auf der Individualvertragsebene kein angemessener Interessenausgleich zu erwarten ist. Schließen sie sich dagegen zusammen, können sie ihrer Arbeitgeberin in etwa gleich stark gegenübertreten, weil sie zwar auf einzelne Arbeitnehmende, aber nicht auf alle verzichten kann. Auf kollektiver Ebene – so der Grundgedanke – kommt wegen dieser Kräfteverteilung ein angemessener Interessenausgleich zustande.
Grundvoraussetzung, damit dieses System funktioniert, ist allerdings, dass auf der kollektiven Ebene auch tatsächlich jenes ungefähre Kräftegleichgewicht besteht. Und hier liegt die aktuelle Herausforderung: Das Interesse aus der Gesellschaft, daran mitzuwirken, ist insgesamt betrachtet stark gesunken, wenn auch nicht gleichmäßig. Signifikante Unterschiede ergeben sich zwischen Ost- und Westdeutschland, verschiedenen Branchen, unterschiedlichen Betriebsgrößen und mehr. Ohne Mitwirkung aus der Gesellschaft fehlen Gewerkschaften aktive Mitglieder und damit auch die Mittel, in der Breite und Tiefe der Arbeitswelt stark aufzutreten. Für die Arbeitgeberseite bestehen dann in einem Wettbewerbsumfeld naheliegende Anreize, Arbeitsbedingungen einseitig vorzugeben, statt sie mit dem Sozialpartner auszuhandeln.
Versuche der Gegensteuerung: "Tarifautonomiestärkungsgesetze"…
Vor diesem Hintergrund hat sich die aktuelle schwarz-rote Regierungskoalition vorgenommen, der Tarifautonomie mit einem Bundestariftreuegesetz den Rücken zu stärken. Der Entwurf ist indes nicht der erste Vorstoß mit diesem Ziel. Schon im Jahr 2014 hat der Gesetzgeber ein "Tarifautonomiestärkungsgesetz" erlassen. Laut Gesetzesbegründung war die Tarifbindung in Deutschland zuvor von 74% im Jahr 1998 auf 58% im Jahr 2012 gesunken; für das Jahr 2023 wird die Quote nun mit 50% angegeben. Da trotz des Gesetzes von 2014 "auch in den Folgejahren die autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifvertragsparteien weiter zurückgegangen" ist, will die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf vom 06. August 2025 nun nachlegen. Worum es dabei geht, verrät der Langtitel des "Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie durch Sicherung von Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des Bundes".
Im Kern sollen Arbeitgeberinnen nach § 4 Abs. 1 TariftreueG-E verpflichtet werden, "ihren zur Leistungserbringung eingesetzten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für die Dauer, in der diese in Ausführung des öffentlichen Auftrags […] tätig sind, mindestens die einschlägigen […] Arbeitsbedingungen zu gewähren". Vergibt der Bund also öffentliche Aufträge an Unternehmen, müssen diese ihre Beschäftigten nach Tarifbedingungen behandeln.
Diese Arbeitsbedingungen sollen nach § 5 TariftreueG-E durch eine Rechtsverordnung bestimmt werden und sich am "einschlägigsten" Tarifvertrag orientieren. Das soll nach § 1 TariftreueG-E schon ab einem Auftragswert von 50.000 Euro gelten. Bei Verstößen soll nach § 11 TariftreueG-E insbesondere eine Vertragsstrafe fällig werden.
Nur noch weitere Bürokratie?
Kritik an den beabsichtigten Tariftreueregelungen gibt es reichlich. Der Normenkontrollrat hält die Schwelle von 50.000 Euro für zu niedrig und befürchtet auch sonst einen unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand für Unternehmen und Verwaltung. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sehen das ähnlich; letztere verweist insbesondere auf die "Zwangselemente" von Tariftreue. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hält das Gesetz im Grundsatz für richtig, kritisiert aber unter anderem Ausnahmen für die Bundeswehr, bestimmte Aufträge mit kurzen Laufzeiten und hält die Schwelle von 50.000 Euro sogar für zu hoch.
In der Rechtswissenschaft sind – wie immer, wenn etwas im Bereich der Tarifautonomie geregelt werden soll – vor dem Hintergrund von Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 GG verfassungsrechtliche Bedenken wegen einer unverhältnismäßigen Freiheitseinschränkung erhoben worden. Die wohl weit überwiegende Meinung dürfte aber davon ausgehen, dass Tariftreueanforderungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge angesichts der recht geringen Eingriffsintensität vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers erfasst sind.
Stärkung der Tarifautonomie oder "nur" der Tarifbindung?
Stärkt nun das Tariftreuegesetz die Tarifautonomie, wie es schon ausweislich des Titels das explizite Ziel des Entwurfs ist? Auseinanderzuhalten sind begrifflich und konzeptionell zwei Dinge: Die Tarifautonomie bezeichnet zunächst einmal die eigenständige und staatsferne Regelung von Arbeitsbedingungen. Geht es hingegen um die Stärkung der Tarifbindung, so ist gemeint, dass die einmal ausgehandelten Tarifverträge auf möglichst viele Arbeitsverhältnisse Anwendung finden – egal wie. Stärkung der Tarifbindung kann also erstens geschehen durch die Stärkung der Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, zweitens darüber, dass der Staat die Wirkung der Tarifverträge gesetzlich ausweitet (bisher: Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, Tariferstreckung durch RVO nach § 7 AEntG und RVO gem. § 3a AÜG), und drittens über eine vermehrte arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge.
Der Gesetzgeber des Tarifautonomiestärkungsgesetzes von 2014 meinte, die Tarifautonomie zu stärken, indem er die Tarifbindung durch erleichterte Erstreckungsmöglichkeiten ausweitete und den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einführte. Das Gegenteil ist aber richtig. Das ist auch der Grund, warum zehn Jahre nach einem explizit so benannten Tarifautonomiestärkungsgesetz noch über die Stärkung der Tarifautonomie gesprochen werden muss. Gerade die aktive Mitgliedschaft in den Verbänden ist in Deutschland traditionell unerlässliche Funktionsbedingung der als staatsfern konzipierten Tarifautonomie. Es braucht möglichst viele, die sich in einer Organisation mitgliedschaftlich engagieren, um im Kollektiv zur "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" beizutragen. Wäre die auf aktiver Mitgliedschaft beruhende Tarifautonomie stark, bräuchte man sich in der Folge auch über eine schwache Tarifbindung keine Gedanken mehr zu machen. Tarifverträge gleich starker Sozialpartner würden kraft mitgliedschaftlicher Bindung Wirkung in der Tiefe und Breite entfalten. Wer also allein die Tarifbindung ausweitet, insbesondere durch staatliche Erstreckung, ohne die Mitgliedschaft und damit die Tarifautonomie zu stärken, bekämpft ein Symptom. Die Ursache der zunehmend sinkenden Tarifbindung liegt in der Schwäche der gelebten Tarifautonomie.
Engagement für die Tarifautonomie muss aus der Gesellschaft kommen
Das geplante Tariftreuegesetz des Bundes nun würde den Weg des Tarifautonomiestärkungsgesetzes von 2014 fortsetzen und Tarifinhalten für bestimmte Fälle eine Verbindlichkeit auch ohne tarifautonome Bindung daran verleihen. Doch auf Seite der Arbeitnehmenden setzt dies keinerlei Anreize, einer Gewerkschaft beizutreten oder sich gar darin aktiv zu beteiligen – eher im Gegenteil, denn es gäbe die Segnungen von Tarifinhalten dann kostenlos, auch ohne Mitgliedsbeitrag und Engagement, und sogar ohne arbeitsvertragliche Bezugnahme. Auf Arbeitgeberseite mag man einen Wettbewerbsnachteil beseitigen, den bislang tarifgebundene Unternehmen gegenüber solchen hatten, die sich nicht an Tarifverträge binden wollten. Das mag für bestimmte Unternehmen Anreize zum Verbandsaustritt und zur Beendigung der Tarifbindung etwas senken, setzt aber gerade keine positiven Anreize zum Verbandsbeitritt.
Ob das wohl kommende Tariftreuegesetz auch vor dem Hintergrund der Zunahme öffentlicher Aufträge im Zuge des 500-Milliarden-Sondervermögens ein "gutes" oder ein "schlechtes" Gesetz ist, ist damit nicht gesagt. Es gibt – wie meist in der Politik – gute Gründe dafür und dagegen. Entgegengewirkt wird immerhin dem wenig überzeugenden Zusammenspiel von tariflichen Arbeitsbedingungen und Vergaberecht – denn wenn nach Vergaberecht der günstigste Anbieter gewählt werden muss, sind diejenigen, die ihren Arbeitsbeziehungen Tarifverträge zugrunde legen, tendenziell im Nachteil. Sein erklärtes Ziel, die in Deutschland traditionell auf aktiver Mitgliedschaft aufbauende Tarifautonomie zu stärken, kann es jedenfalls kaum erreichen. Die Tarifautonomie durch Gesetz zu stärken, ist aber auch ein weitaus schwierigeres Unterfangen als schlicht eine Erstreckung tariflicher Regelungen anzuordnen. Denn das für eine wirklich autonome, kräftegleiche Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen notwendige Engagement aus der Gesellschaft heraus lässt sich in unserer freiheitlichen Ordnung nicht staatlicherseits herbeibefehlen.
PD Dr. Stephan Seiwerth, LL.M. (Leuven) ist Akademischer Rat a.Z. an der Universität zu Köln und vertritt derzeit einen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.