Karenztag-Vorschlag: "Wir brauchen ein neues Verständnis von Arbeitsunfähigkeit"
© Dr. Sebastian Maiß

Allianz-CEO Oliver Bäte fordert angesichts hoher Krankenstände, den ersten Tag der Erkrankung eines Arbeitnehmers von der Lohnfortzahlung auszunehmen. Die Idee ist nicht neu und wohl auch nicht wirklich hilfreich, meint Sebastian Maiß

beck-aktuell: Allianz-Chef Oliver Bäte hat kürzlich im Handelsblatt die Einführung eines Karenztages für erkrankte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefordert, um so die Unternehmen zu entlasten und dem hohen Krankenstand in Deutschland entgegenzuwirken. Herr Dr. Maiß, was bedeutet das konkret?

Dr. Sebastian Maiß: Herr Bäte möchte, dass die Entgeltfortzahlung für arbeitsunfähig erkrankte Beschäftigte nicht wie bisher ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit, sondern erst ab dem zweiten Tag gezahlt wird. Unklar ist für mich an der Stelle aber noch, wer die Kosten zu tragen hätte: Muss der Arbeitnehmer sie selbst tragen oder springt an der Stelle vielleicht bereits die Krankenkasse ein?

"Die gleichen Argumente wie 1996"

beck-aktuell: Bäte will also der Sache nach § 3 EFZG ändern. Wäre sein Vorschlag denn ein Novum im deutschen Arbeitsrecht?

Maiß: Das, was Herr Bäte fordert, ist nicht ganz neu. Das EFZG gibt es in der Form, wie wir es heute kennen, erst seit dem Jahr 1994. Kurz nach der Wiedervereinigung wurden die bisher bestehenden Regelungen in der Bundesrepublik mit denen der ehemaligen DDR zusammengefasst. Es war dann die Kohl-Regierung, die im Jahr 1996 schon einmal auf die Idee kam, dass die Entgeltfortzahlungskosten zu hoch und eine wesentliche Ursache für die wirtschaftliche Schwäche in der Bundesrepublik Deutschland seien. Damals waren es bereits die gleichen Argumente wie die, die Herr Bäte jetzt anführt. Die Regelung, die dann ins EFZG kam, sah jedoch vor, die Entgeltfortzahlung grundsätzlich ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit beginnen zu lassen, allerdings auf 80 Prozent des Gehalts reduziert. Dazu kam noch eine weitere Regelung in § 3 Abs. 3 EFZG, die bis heute Bestand hat. Danach entsteht der Anspruch auf Entgeltfortzahlung erst nach vierwöchiger Dauer des Arbeitsverhältnisses.

Sie können sich vorstellen, dass diese Regelungen die Tarifvertragsparteien damals auf die Palme gebracht haben. Die Gewerkschaften sind dagegen vorangegangen und haben Tarifverträge ausgehandelt, wonach das Entgelt zu 100 Prozent weitergezahlt wurde. 1998 hat dann die Schröder-Regierung die alte gesetzliche Regelung der 100 Prozent ab dem ersten Tag wieder eingeführt. Im Übrigen gab es Karenztage unter dem EFZG bisher jedoch nicht.

In Betrieben gibt es aber schon heute sogenannte Karenz- oder "KO-Tage". "KO" bedeutet krank ohne Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Nach § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG ist der Arbeitnehmer nämlich erst nach dem dritten Kalendertag verpflichtet, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Davor handelt es sich, wenn man so möchte, auch um Karenztage.  Der Arbeitgeber kann vor diesem vierten Tag bereits den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch eine Bescheinigung einfordern, muss es aber nicht. Das wird in betrieblichen Regelungen auch als Karenztag bezeichnet. Mit einem wesentlichen Effekt für die Entgeltfortzahlung: Der Arbeitnehmer hat erst dann den Beweiswert seiner Arbeitsunfähigkeit, wenn er dafür eine AU-Bescheinigung vorlegt. Das heißt, typischerweise erst ab dem vierten Tag. Zweifelt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit an und verweigert deswegen die Entgeltfortzahlung, muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit in einem etwaigen Prozess darlegen und beweisen. Dies wird ihm ohne AU-Bescheinigung Probleme bereiten.

AU-Bescheinigungen können leichter in Zweifel gezogen werden

beck-aktuell: Allianz-Chef Bäte bezog sich mit seinem Vorschlag darauf, dass wir in Deutschland einen relativ hohen Krankenstand unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben, 2023 waren es durchschnittlich 15,1 Krankheitstage pro Jahr und arbeitender Person. Das merkt man auch bei den Arbeitsgerichten, wo sich z. B. Streitigkeiten über den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen häufen. Gibt es heute mehr Streit um Krankheitstage?

Maiß: Den Befund kann ich bestätigen. In den angesprochenen Streitigkeiten um den Beweiswert der AU-Bescheinigung geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber diese bei Zweifeln angreifen kann. Bis zum Jahr 2021 war das kaum möglich, dann hat das BAG aber seine Rechtsprechung neu justiert. In der Folgezeit gab es eine Vielzahl von Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte, die ebenfalls zugunsten von Arbeitgebern einfachere Möglichkeiten gesehen haben, den Beweiswert der AU-Bescheinigung anzugreifen, insbesondere aufgrund des Verhaltens des Arbeitnehmers vor oder nach der Ausstellung der Bescheinigung. Das gipfelte im Jahr 2023 in einer Entscheidung des BAG, in der das Gericht erklärte, dass auch aus der AU-Bescheinigung selbst Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit hervorgehen können.

Diese Entwicklung nutzen mittlerweile Arbeitgeber, wenn sie Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit haben. Sie behalten die Entgeltfortzahlung ein und haben nunmehr deutlich mehr Möglichkeiten, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern. 

"Präsentismus mit Folgekosten"

beck-aktuell: Ein gewisses Misstrauen gegenüber Krankmeldungen steht ja auch hinter dem Vorschlag von Herrn Bäte. Nun erklären aber die Bundesärztekammer und auch DAK-Vorstandschef Andreas Storm, der Anstieg der Krankmeldungen sei nicht aufs "Blaumachen" zurückzuführen, sondern zum einen bedingt durch einen statistischen Effekt infolge der Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung sowie durch Grippe- und Corona-Wellen. Adressiert der Karenztag dann überhaupt das richtige Problem?

Maiß: Da habe ich Zweifel. Im Moment ist die Diskussion etwas irreführend, weil wir keine vernünftige statistische Grundlage darüber haben, ob es tatsächlich neue Ursachen, wie Corona-Infektionen oder statistische Neubewertungen aufgrund der seit 2023 geltenden elektronischen Arbeitsunfähigkeitsmeldung gibt. Der Weg über den Karenztag wäre nur dann der richtige, wenn es tatsächlich eine Evidenz dafür gäbe, dass Mitarbeiter ihren Arbeitgeber betrügen. Solche Fälle sehe ich auch bei meinen Mandanten und höre davon auch immer wieder in Workshops mit Führungskräften. Es sind aber, da sollten wir ehrlich sein, in der Regel Einzelfälle.

beck-aktuell: Gibt es noch andere Punkte, die man aus Ihrer Sicht bedenken sollte, wenn man einen Karenztag einführen wollte?

Maiß: Das größte Gegenargument ist die Befürchtung, dass es zu einem Präsentismus kommt von Mitarbeitern, die tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt sind und damit nicht nur sich schädigen, sondern möglicherweise noch andere Kollegen anstecken, wodurch es zu Folgekosten käme. Darüber hinaus wird angeführt, dass gerade Mitarbeiter mit geringen Einkommen besonders belastet werden, denn selbst ein Tag der Nicht-Fortzahlung des Entgelts kann für sie eine erhebliche wirtschaftliche Belastung bedeuten. 

Außerdem steht für mich eher in den Sternen, welche praktische Bedeutung eine gesetzliche Änderung überhaupt hätte: Das EFZG setzt nur Mindestbedingungen, auf tarifvertraglicher Ebene könnten also weiterhin andere Regelungen beschlossen werden, so dass die Fortzahlung bereits ab dem ersten Tag für tarifgebundene Beschäftigte zu leisten wäre.  

"Ein neues Verständnis: Wann ist man krank – und wann arbeitsunfähig?"

beck-aktuell: Gibt es aus Ihrer Sicht denn sinnvollere Ansätze, um dem hohen Krankenstand in der Arbeitnehmerschaft zu begegnen?

Maiß: Ich glaube, der Kern des Problems dreht sich zunächst mal um eine ganz einfache, gar nicht juristische Frage: Wer ist eigentlich krank und wer ist arbeitsunfähig? Denn das sind zwei unterschiedliche Begriffe, die sehr häufig miteinander vermischt werden. 

Ein Beispiel: Wenn ich mir als Rechtsanwalt ein Bein breche, bin ich ganz sicher erkrankt, aber nicht arbeitsunfähig. Denn ich kann noch sprechen, schreiben und sicherlich auch Termine wahrnehmen. Wenn ich aber Fußballspieler bin und mein Bein gebrochen habe, bin ich krank und erst recht arbeitsunfähig, denn ich könnte meinem Beruf nicht nachgehen. Das heißt, der Arzt muss mit dem Beschäftigten – seinem Patienten – nicht nur klären, ob er krank ist, sondern auch, ob diese Erkrankung dazu führt, dass er seine Arbeitsleistung nicht erbringen kann. Sowohl von Arbeitgebern als auch von Ärzten und den Beschäftigten braucht es ein neues Verständnis: Wann ist man nicht nur krank, sondern auch arbeitsunfähig? 

Zweitens, glaube ich, gibt es ein psychologisches Thema, über das Arbeitgeber nachdenken sollten. Denn mein Befund ist: Es mag Mitarbeiter geben, die ihre Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, auch wiederkehrend. Dann ist es aber doch die Aufgabe des Vorgesetzten, zunächst einmal mit diesen Mitarbeitern in ein Gespräch einzusteigen und die Kooperationsbereitschaft auszuloten: Bist du tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt? Was kann ich als Arbeitgeber für dich tun, um dich auf dem Weg der Genesung zu unterstützen? Man wird nach einem solchen offenen Gespräch sehr schnell feststellen, ob der Mitarbeiter tatsächlich kooperationsbereit ist oder ob er abblockt. Bei fehlender Kooperationsbereitschaft des Beschäftigten und fortbestehenden Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit sollten Arbeitgeber dann auch ihre Rechte konsequent durchsetzen.

beck-aktuell: Herr Dr. Maiß, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

Dr. Sebastian Maiß ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei michels.pmks am Standort Düsseldorf.

Die Fragen stellte Maximilian Amos. Eine längere Version des Gesprächs wird in der kommenden Folge 36 von "Gerechtigkeit & Loseblatt - Die Woche im Recht", dem Podcast von NJW und beck-aktuell, zu hören sein.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 8. Januar 2025.