Das VG Berlin hatte in einer Eilentscheidung festgestellt, die Zurückweisung der um Asyl ersuchenden Somalier bei einer Grenzkontrolle auf deutschem Gebiet sei rechtswidrig gewesen . Ohne Durchführung des sogenannten Dublin-Verfahrens hätten sie nicht abgewiesen werden dürfen. Die Dublin-Verordnung legt fest, welcher EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hält gleichwohl an der Zurückweisung von Asylsuchenden fest. "Wir halten an unserer Rechtsauffassung auch fest", sagte er in Berlin und betonte mehrfach, es handle sich um eine Entscheidung im Einzelfall. "Es gibt keinen Grund aufgrund einer Gerichtsentscheidung, die heute hier erfolgt ist in diesem Einzelfall, unsere Praxis zu verändern."
Unterstützung erhielt er von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Die Entscheidung des Berliner Gerichts enge die Spielräume zwar möglicherweise noch einmal etwas ein, sagte der CDU-Chef beim Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin. "Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können."
"Wir werden das selbstverständlich im Rahmen des bestehenden europäischen Rechts tun", sagte Merz. "Aber wir werden es tun, auch um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren." Dieser Aufgabe wolle sich die Bundesregierung unverändert stellen. Der Kanzler unterstrich, bis sich die Lage an den europäischen Außengrenzen mit Hilfe von neuen gemeinsamen europäischen Regeln deutlich verbessert habe, "werden wir die Kontrollen an den Binnengrenzen aufrechterhalten müssen".
Zuversicht in der Koalition, Kritik aus der Opposition
Dobrindt erklärte, er wolle nun das Hauptsache-Verfahren anstreben. Man glaube, dass man dort "deutlich Recht bekommen" werde. "Das Gericht hat in diesem Beschluss ausgeführt, dass die Begründung für unsere Maßnahmen dezidierter hätte sein sollen." Diese dezidiertere Begründung wolle man nun nachliefern.
Der designierte SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf reagierte zurückhaltender. Generell gelte, dass die SPD zum Koalitionsvertrag stehe. Es komme "jetzt darauf an, sich das Urteil genau anzugucken und auch ins Gespräch zu gehen, wie die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag jetzt rechtssicher miteinander umgesetzt werden" könne, sagte Klüssendorf in der RTL/ntv-Sendung "Frühstart". Das werde die Koalitionspartner die kommenden Tage und Wochen beschäftigen. Klüssendorf legte besonderes Augenmerk auf die Rechtssicherheit für Bundespolizistinnen und Bundespolizisten. Sie hätten die Zurückweisungen schließlich umzusetzen.
Kritik an Dobrindts Aussagen kam aus der Opposition: Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte im ZDF-"Morgenmagazin", Merz und Dobrindt seien "mit ihrem nationalen Alleingang auf der ganzen Linie gescheitert". Sie würden nicht nur die Zusammenarbeit in Europa gefährden, sondern an dieser Stelle auch Recht brechen. Dobrindt bringe mit seiner Anordnung zudem die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten in eine schwierige Situation, was die Ausübung ihres Amtes angehe. Das sei nicht tragbar.
Ebenfalls Kritik, allerdings am Urteil, kam aus den Reihen der AfD. "Wer auf diese Art und Weise Sicherheitsinteressen der deutschen Bürger negiert, der muss sich schon fragen, ob er tatsächlich noch Recht im Namen des deutschen Volkes spricht", sagte der AfD-Innenpolitiker Martin Hess vor Journalisten in Berlin. Die Migrationspolitik habe die Sicherheitslage in Deutschland massiv verschlechtert "und wir sind nicht bereit das hinzunehmen", fügte der Bundestagsabgeordnete hinzu.
Experte hält ausreichende Begründung für möglich
Der Migrationsrechtsexperte Daniel Thym hält es trotz des Urteils noch für möglich, dass Zurückweisungen Asylsuchender an der Grenze rechtlich Bestand haben könnten. Die Bundesregierung habe in dem konkreten Fall keine ausreichende Begründung vorgelegt, warum sie sich auf eine Ausnahmeregelung des EU-Rechts stützt, und darum habe sich das Gericht mit diesem Aspekt auch nicht befasst, erklärte der Professor der Universität Konstanz im Deutschlandfunk. "Wenn sie eine solide Begründung vorlegen, könnte ich mir vorstellen, dass der Eilrechtsschutz auch anders ausfällt."
"Es gibt viele Argumente, dass es nicht geht, aber auch einige, dass es geht", sagte er. Die großen Herausforderungen bei der Integration Geflüchteter könnten etwa eine geeignete Begründung sein, warum Deutschland von den EU-Regelungen abweiche. Deutschland habe beispielsweise einschließlich der Ukrainer achtmal so viele Migranten aufgenommen wie Italien, obwohl es nur eineinhalb Mal so viele Einwohner habe.
Wenn die Regierung aber eine wirkliche Wende in der Migrationspolitik erreichen wolle, "sind Zurückweisungen allenfalls eine Brücke", um rechtliche Änderungen auf nationaler und europäischer Ebene zu erreichen. Wichtiger sei das Drehen an zahlreichen kleineren Reform-Stellschrauben, etwa im Verwaltungsvollzug, aber auch um die Wirksamkeit einzelner Urteile auf EU-Ebene aufzuheben, erläuterte er.
"Die Rechtsprechung soll ihren Standpunkt ändern"
Ob die Bundesregierung die Zurückweisungen von Asylsuchenden dauerhaft aufrechterhalten kann, ist nach Einschätzung des Migrationsrechtsexperten Winfried Kluth offen. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration sagte der Deutschen Presse-Agentur, der Bundeskanzler habe ja schon vor Wochen angekündigt, dass man in Bezug auf die Zurückweisung an den Binnengrenzen eine andere Auffassung vertrete als frühere Bundesregierungen. Die Entscheidung des VG liege nun "ganz auf der Linie der herrschenden Meinung im Migrationsrecht und der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs".
"Die neue Bundesregierung will die Rechtsprechung dazu bringen, ihren Standpunkt zu ändern." Angestrebt würden letztlich Entscheidungen des EuGH, die mehr Spielräume böten. Zudem werde versucht, unter Verweis auf die Überlastung der Kommunen eine neue Argumentation für die Interpretation der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu etablieren. Diese sogenannte Notlagenklausel erlaubt Ausnahmen. "Ob man von der Lage in einzelnen Kommunen auf ganz Deutschland schließen kann, ist aber sehr fraglich", gab der Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu bedenken.
Solange das zuständige höchste Gericht nicht ausdrücklich anders entschieden habe, sei es zwar möglich, eine neue, bislang nicht etablierte Auslegung einer Norm anzustreben, erklärte Kluth. Der aktuelle Fall werfe aber auch die Frage auf, wer die Feststellung treffen könne, dass eine Ausnahmelage im Sinne von Artikel 72 vorliegt. "Das ist eine Entscheidung von großer Tragweite, weil damit der Vorrang des Unionsrechts partiell durchbrochen wird", sagte der Jurist.
Aus seiner Sicht müsste eine solche Entscheidung die gesamte Bundesregierung oder sogar der Bundestag treffen - ähnlich wie die Entscheidung über die epidemische Lage von nationaler Tragweite in der Corona-Pandemie. Dies müsste dann auch förmlich den Nachbarstaaten und der EU-Kommission mitgeteilt werden.
Dobrindt betrachtet Asylsystem als dysfunktional
Dobrindt hatte am 7. Mai, wenige Stunden nach seinem Amtsantritt als Bundesinnenminister, eine Intensivierung der Grenzkontrollen verfügt. Gleichzeitig ordnete er an, künftig sollten auch Asylsuchende an der Grenze zurückgewiesen werden können. Dies soll allerdings nicht für Schwangere, Kinder und andere Angehörige vulnerabler Gruppen gelten.
Zwischen dem 8. Mai und dem 1. Juni wurden nach Dobrindts Angaben 2.850 Menschen an den deutschen Grenzen zurückgewiesen. In 179 Fällen sei ein Asylgesuch gestellt worden. In 138 dieser Fälle habe es eine Zurückweisung gegeben, 41 Fälle hingegen hätten zu den vulnerablen Gruppen gehört.
Seinen Angaben zufolge hatten die Somalier, die in Berlin das Gericht angerufen hatten, bereits am 2. und am 3. Mai versucht nach Deutschland einzureisen, ohne ein Asylgesuch vorzubringen. Dies hätten sie erst beim dritten Versuch am 9. Mai getan. "Man sieht an genau so einem Beispiel auch, wie schwierig die Situation inzwischen ist, wie komplex sie ist und wie, ich würde mal sagen, auch dysfunktional die Situation des ganzen Asylsystems inzwischen geworden ist", sagte Dobrindt.