Opposition scheiterte mit Eilantrag gegen die Wahlreform vor dem BVerfG
Im Juli hatte das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag von Grünen-, FDP- und Linken-Abgeordneten gegen die Wahlrechtsreform abgelehnt, welche Union und SPD im Oktober 2020 im Alleingang beschlossen hatten. Dem Rechtsstreit war eine jahrelange Debatte um das Problem des immer größer werdenden Bundestages vorausgegangen. Dieser war durch Überhang- und Ausgleichsmandate von ursprünglich gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG 598 Sitzen auf zuletzt 709 Sitze angewachsen. Da ein großes Parlament nicht nur mehr Steuergelder frisst, sondern schlichtweg auch weniger arbeitsfähig ist, sind sich zwar alle Parteien einig, dass der Bundestag wieder schrumpfen muss. Eine Kompromisslösung ist in zwei Wahlperioden aber nicht zustande gekommen. Nachdem Grüne, FDP und Linke ihrerseits mit ihrem Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 zu reduzieren, gescheitert sind, setzte die schwarz-rote Regierung die Wahlrechtsreform gegen den Widerstand der Opposition und trotz vielfach geäußerter Kritik von Expertengremien hinsichtlich der Wirksamkeit der Reform durch. Dabei brach sie auch mit der Tradition, Änderungen am Wahlrecht möglichst mit breiter Mehrheit zu verabschieden.
BVerfG: Gerügte Grundrechtsverstöße konnten nicht zweifelsfrei festgestellt werden
Die Antragsteller hatten einen Verstoß von Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG gegen das Gebot der Normenklarheit aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs, 1 und 2 GG sowie gegen die Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) und die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) durch die Einführung ausgleichsloser Überhangmandate gerügt. Art. 1 Nr. 3 bis 5 BWahlGÄndG regelt im Wesentlichen das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlen nach § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG neu. Nach der Neuregelung werden Überhangmandate teilweise mit Listenmandaten verrechnet. Bis zu drei Überhangmandate einer Partei werden nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert, wenn der Bundestag seine Soll-Größe überschreitet. Im einstweiligen Verfahren hätten die gerügten Grundrechtsverstöße nach Ansicht des Gerichts jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden können. Nachdem die Opposition mit ihrem Eilantrag gescheitert ist, konnte das neue Wahlrecht bei der diesjährigen Bundestagwahl bereits angewendet werden.
Hohe Briefwahlquote birgt praktische und verfassungsrechtliche Probleme
Eine weitere Besonderheit der diesjährigen Wahlen ist der sehr hohe Anteil an Briefwählenden. Genaue Zahlen liegen derzeit zwar noch nicht vor, bereits im Vorfeld wurde aber mit einem Briefwahlrekord von um die 50% der abgegebenen Stimmen gerechnet. Bei der vergangenen Bundestagswahl lag der Anteil der Briefwählenden noch bei 28%. Grund dafür dürfte neben der Pandemielage auch ein allgemeiner Trend zu mehr Mobilität und Flexibilität sein. Im Jahr 2008 wurde das Briefwahlverfahren außerdem auf Bundesebene vereinfacht. Die Beantragung der Briefwahl bedarf seitdem laut § 17 Abs. 2 BWahlG keiner besonderen Begründung mehr. Dass die Briefwahl genauso sicher ist wie die Urnenwahl, dürfte zwar weitgehend unbestritten sein. So warben bei der diesjährigen Wahl sogar fast alle Parteien ausdrücklich mit der Briefwahl. Lediglich die AfD sprach sich öffentlich dagegen aus und warnte vor angeblichem Wahlbetrug, was vom Bundeswahlleiter Georg Thiel zurückgewiesen wurde. Dennoch ist ein (zu) hoher Anteil an Briefwählenden nicht ganz unproblematisch. Zum einen sehen sich Städte und Gemeinden ob des extremen Anstiegs vor neuen logistischen Herausforderungen. Zum anderen werden auch immer wieder verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Briefwahl geäußert. Denn im privaten Raum könne keiner kontrollieren, ob wirklich geheim und frei abgestimmt werde.
BVerfG: Geltende Regelungen zur Briefwahl verfassungskonform
Das Bundesverfassungsgericht hatte schon mehrfach über die Zulässigkeit der Briefwahl zu entscheiden und insofern festgestellt, dass die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und Öffentlichkeit (Art. 38 GG i.V.m. Art. Art. 20 Abs. 1, 2 GG) von der Briefwahl einschränkt würden (BeckRS 9998, 103401; BeckRS 2009, 31806). Allerdings liege es in der "Natur der Sache", so das Gericht, dass nicht jeder Wahlgrundsatz stets in voller Reinheit verwirklicht werden könne. Die geltenden Regelungen seien verfassungskonform, da sie dem Ziel dienten, eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit Rechnung trügen. Das Gericht hat aber darauf hingewiesen, dass eine deutliche Zunahme der Briefwählenden mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar mache, in Konflikt treten könne (BeckRS 2013, 53649). Der Wissenschaftliche Dienst kam daher im März 2020 in einer Analyse zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen zu dem Ergebnis, dass diese den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben für die Umsetzung und Konkretisierung der Wahlgrundsätze nicht gerecht würde (WD 3 - 3000 - 074/20).
Reine Briefwahl in Sachsen-Anhalt wegen Corona-Notlage zulässig
Demgegenüber hat das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt im Mai diesen Jahres im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen zur Änderung des Wahlgesetzes und Kommunalwahlgesetzes bestätigt. Eine reine Briefwahl schränke die Absicherung des Wahlgeheimnisses und den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl zwar ein, dies sei aber mit Blick auf die Pandemie zulässig. Die Nachteile einer reinen Briefwahl seien unter den Bedingungen einer pandemischen Notlage durch die verfassungsrechtlichen Rechtsgüter der Allgemeinheit der Wahl, die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die zeitlichen Vorgaben der Landesverfassung für die Erneuerung der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt gerechtfertigt.
Darf die "Sonntagsfrage" auch Briefwählenden gestellt werden?
Eine weitere Problematik rund um die Briefwahl hatte sich im Rahmen der sogenannten "Sonntagsumfragen" des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergeben. Umfrageinstitute fragen regelmäßig zufällig ausgesuchte Bürgerinnen und Bürger: "Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, wen würden sie wählen?". Forsa fragte dabei auch, ob jemand schon per Brief gewählt hatte und wenn ja, wen. Das Stimmverhalten der Briefwählenden floss in die Umfrageergebnisse ein, wurde aber nicht getrennt ausgewiesen. Der Bundeswahlleiter hatte Forsa und andere Meinungsforschungsinstitute unter Androhung eines Bußgelds von 50.000 Euro aufgefordert, keine Umfragen zu veröffentlichen, in die die Antworten von Briefwählern einfließen. Das verstoße gegen § 32 Abs. 2 BWahlG, wonach die Veröffentlichung von Wahlumfragen nach Stimmabgabe der Befragten vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig ist. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden entschied per Eilbeschluss zu Gunsten von Forsa. Ein Veröffentlichungsverbot beeinträchtige die Freiheit der Berichterstattung. Die Veröffentlichung von Wählerumfragen gehöre zum politischen und demokratischen Prozess.
VGH Kassel: Briefwahl von Verbot des § 32 Abs. 2 BWahlG nicht erfasst
Der VGH Kassel hat die Entscheidung des VG bestätigt und die Beschwerde des Bundeswahlleiters zurückgewiesen. Die Briefwahl falle nach dem eindeutigen Wortlaut und der Gesetzessystematik nicht unter das in § 32 Abs. 2 BWahlG normierte Verbot der Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen "nach der Stimmabgabe" vor Ablauf der "Wahlzeit". Das Bundeswahlgesetz differenziere an verschiedenen Stellen zwischen einer "Stimmabgabe" am Wahltag im Wahlraum einerseits und der Briefwahl andererseits. Zudem knüpfe das Verbot mit dem Begriff der "Wahlzeit" an die Möglichkeit der Stimmabgabe in den Wahllokalen zwischen 8:00 und 18:00 Uhr an. Eine über den Wortlaut hinausgehende extensive Auslegung einer Verbotsnorm komme nicht in Betracht. Der Gesetzgeber habe für eine zeitliche Ausdehnung des Veröffentlichungsverbotes bislang keinen Handlungs- oder Regelungsbedarf gesehen.
Vorwurf der Wahlmanipulation gegen Bayerns Vize-Ministerpräsident Aiwanger
Dem Vorwurf des Verstoßes gegen § 32 Abs. 2 BWahlG sah sich auch Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) ausgesetzt. Er hatte am Wahlnachmittag - vor Schließung der Wahllokale - die Ergebnisse einer sogenannten "exit poll", also einer Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen, auf Twitter veröffentlicht und dazu aufgerufen, die "letzten Stimmen" den Freien Wählern zu geben. Unmittelbar nach dem Tweet meldeten sich mehrere bayerische Politiker zu Wort. CSU-Generalsekretär Markus Blume sprach von einem "unglaublichen Fall von Wahlmanipulation". Bayerns Ministerpräsident Markus Söder warf Aiwanger "unwürdiges Verhalten" vor. Aiwangers Tweet wurde kurze Zeit später aus dem Netz genommen. Aiwanger selbst bezeichnete den umstrittenen Twitter-Eintrag als "Missgeschick". "Es war weder böse Absicht noch sonst etwas dahinter", sagte er heute in München. Ob sein Verhalten noch Konsequenzen nach sich ziehen wird, bleibt jedoch abzuwarten. Grundsätzlich können Verstöße gegen § 32 Abs. 2 BWahlG mit bis zu 50.000 Euro geahndet werden.
Laschet zeigt seine Kreuze
Für Aufsehen sorgte am Wahltag auch Unions-Spitzenkandidat Armin Laschet (CDU). Dieser hatte gemeinsam mit seiner Ehefrau vor der Wahlurne für Pressefotografen posiert. Auf den Bildern sieht man, wie Laschet seinen Stimmzettel über die Wahlurne hält. Ebenfalls deutlich zu erkennen sind die beiden Kreuze für Erst- und Zweitstimme bei der CDU. Grundsätzlich ist der Stimmzettel laut § 52 Abs. 2 BWO so nach innen zu falten, dass die Stimmabgabe nicht erkennbar ist. Bei einem Verstoß hiergegen hat der Wahlvorstand laut § 56 Abs. 6 Nr. 5 BWO den Wähler oder die Wählerin zurückzuweisen. Dies ist jedoch nicht passiert. Beide Stimmzettel sind in den Wahlurnen verschwunden. Ungültig dürfte die Stimmabgabe dennoch nicht sein. "Gelangt der Stimmzettel dennoch in die Wahlurne, kann er nicht mehr aussortiert werden und ist gültig", twitterte der Wahlleiter kurze Zeit später. Außerdem könne in Laschets Verhalten keine Wählerbeeinflussung gesehen werden. Die Stimmabgabe eines Spitzenkandidaten für die eigene Partei sei alles andere als überraschend und dürfte wenig Auswirkung auf andere Wählende haben - anders als beispielsweise bei einem Prominenten. Einen ähnlichen Fall hatte es 2005 gegeben, als der damalige CSU-Chef Edmund Stoiber in Wolfratshausen beim Falten seines Wahlzettels fotografiert worden war. Eine Frau hatte deshalb vergeblich Einspruch gegen das Wahlergebnis eingelegt. Der Wahlprüfungsausschuss hatte von einem Wahlfehler gesprochen, dieser sei jedoch nicht mandatsrelevant gewesen.
Drei Wahlen, ein Volksentscheid und ein Marathon in Berlin
Scharfer Kritik sah sich auch die Berliner Landesregierung am Wahltag ausgesetzt. Lange Warteschlangen, fehlende und vertauschte Stimmzettel und Stimmabgaben weit nach 18 Uhr sorgten bundesweit für Empörung. In Berlin wurde neben dem Bundesparlament auch das Berliner Abgeordnetenhaus neu gewählt. Außerdem wurde über den Volksentscheidung zur Enteignung großer Wohnungskonzerne abgestimmt. Schließlich fand gestern auch der Berliner Marathon statt, so dass viele Straßen gesperrt waren. Im Laufe des Nachmittags hatten sich sodann Berichte über Unregelmäßigkeiten und Verzögerungen in einigen Wahllokalen gehäuft. In manchen Wahllokalen hätten nicht ausreichend Wahlzettel für die Berliner Wahl zur Verfügung gestanden. In anderen seien die Stimmzettel für die Abgeordnetenhauswahl aus den Bezirken Friedrichshain/Kreuzberg und Charlottenburg/Wilmersdorf vertauscht worden. Die fehlenden bzw. richtigen Stimmzettel seien zwar angefordert worden, hätten aber wegen des Marathons nicht schnell geliefert werden können. Bis die Stimmzettel vorlagen, mussten die Wahllokale zeitweise schließen. Wegen Problemen mit der elektronischen Schließanlage konnten schließlich Wählerinnen und Wähler zweier Wahllokale in Mitte nur mithilfe der Feuerwehr zu Wahlkabinen und Abstimmung gelangen.
Bundeswahlleiter fordert Bericht zu Wahlpannen an
Die daraufhin erfolgte Stimmabgabe auch nach 18 Uhr scheint nach ersten Einschätzungen nicht problematisch zu sein. Die Wahl darf zwar gemäß § 47 Abs. 1 BWO nur bis 18 Uhr dauern. Ein Verstoß hiergegen liegt aber nicht vor, wenn sich die Wählenden vor 18 Uhr in eine Warteschlange eingereiht haben. Hinweise dafür, dass auch Stimmzettel für die Bundestagswahl gefehlt haben, gibt es nach Aussagen des Bundeswahlleiters ebenfalls nicht. Von der Landeswahlleitung hat er jedoch einen detaillierten Bericht zu den Pannen in Berlin angefordert. Auch viele Politikerinnen und Politiker forderten noch in der Wahlnacht eine rasche Aufklärung der Vorkommnisse. Der Sprecher der Landeswahlleitung sagte dem "Tagesspiegel", es seien für 110 bis 120% der Wahlberechtigten Stimmzettel gedruckt worden. Er könne sich die Engpässe nicht erklären.
Parlament so groß wie nie zuvor
Mit 735 Abgeordneten ist der 20. Bundestag zwar deutlich kleiner als befürchtet, aber dennoch so groß wie noch nie. Die Ursachen für den glimpflichen Anstieg dürften vor allem in Bayern liegen. Zum einen hat die CSU dort mehr Zweitstimmen bekommen als erwartet, nämlich 31,7%. Zudem wurden außergewöhnlich viele Stimmen bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt, weil sie für Parteien abgegeben wurden, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Dadurch hat sich das Gewicht des Stimmanteils der CSU erhöht. Das ergab nach Zweitstimmen 34 Mandate für die CSU, die aber 45 Direktmandate gewonnen hat. Von den ihr zustehenden 11 Überhangmandaten wurden drei entsprechend des neuen Wahlgesetzes nicht ausgeglichen. Die anderen acht Überhangmandate führten zu 126 Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien. Wäre der Zweitstimmanteil der CSU geringer ausgefallen, hätte sie weniger als 34 Mandate aus Zweitstimmen erhalten und es hätten mehr Direktmandate ausgeglichen werden müssen. Der Bundestag wäre noch deutlich größer ausgefallen.
Auswirkung der Wahlrechtsreform
Ohne das neue Wahlrecht wären drei weitere Überhangmandate ausgeglichen worden. Dann wäre der Bundestag nach den Berechnungen des Wahlforschers Robert Vehrkamp um 50 Sitze größer geworden, würde 785 Abgeordnete zählen. Hätte hingegen der gemeinsame Entwurf von FDP, Grünen und Linken für eine Wahlrechtsreform eine Mehrheit bekommen und wäre Gesetz geworden, würden jetzt nur 662 Abgeordnete im Bundestag sitzen. Er wäre also um 47 Abgeordnete geschrumpft und nicht um 26 Parlamentarier größer geworden.