beck-aktuell: Anfang vergangener Woche stellten Sie bei Legal Tribune Online den ehemaligen bayerischen Justizminister Winfried Bausback als designierten Nachfolger von Peter Müller im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vor. In dem Portrait wiesen Sie etwas süffisant darauf hin, dass der habilitierte Rechtslehrer Bausback in seiner Dissertation die Auffassung vertreten hatte, Grundmandatsklauseln seien grundsätzlich nicht mit dem GG vereinbar. Nur wenige Tage später wurde bekannt, dass Bausback nun doch nicht Verfassungsrichter werden solle. Was war geschehen?
Dr. Christian Rath: Nachdem die Amtszeit von Peter Müller zum 30. September geendet hatte, war klar, dass es sehr bald Nachfolgerwahlen im Bundesrat geben würde, die Bundesratssitzung am 24. November lag als Termin nahe. Mitte November erfuhr ich, dass CDU und CSU sich geeinigt hatten, dass die CSU für diese Position das Vorschlagsrecht hat. Das hieß, es läuft auf Winfried Bausback hinaus, den die CSU schon seit Wochen als ihren Kandidaten präsentierte.
Für das Portrait habe ich dann Bausbacks Veröffentlichungsliste angeschaut. Eines der wenigen Bücher war die Dissertation aus dem Jahr 1998 zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Wahlrechts. Die Dissertation habe ich mir aus dem Tiefmagazin der Universitätsbibliothek kommen lassen. Immerhin ging es um Verfassungsrecht und außerdem wird das Wahlrecht bald auch Thema sein im Zweiten Senat, in den Bausback hineingewählt werden sollte. Ich habe dann festgestellt, dass er unter anderem eine Entscheidung des BVerfG zur Grundmandatsklausel des Bundeswahlgesetzes kritisiert hat, in der die Klausel für zulässig erklärt wurde. Die Klausel sorgte dafür, dass regional besonders verankerte Parteien in den Bundestag einziehen können, auch wenn sie bundesweit die 5-%-Hürde nicht überschreiten.
„Grundmandatsklausel: Heute für die CSU in Sichtweite“
beck-aktuell: Und wurden hellhörig, weil Sie wussten, dass eine Klage unter anderem der CSU, die ja Bausback vorschlagen wollte, gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel beim BVerfG liegt?
Rath: Natürlich hat mich das interessiert, weil die CSU als Partei und die bayerische Staatsregierung gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel durch den Bundestag im Juni 2023 geklagt haben. Diese Klausel, die die die CSU retten will, erklärte Bausback in seiner Dissertation grundsätzlich für verfassungswidrig. Das war sehr kurios. Damals war Bausbacks Position aber weder überraschend noch besonders originell. Viele konservative Verfassungsrechtler vertraten diese Auffassung in den 1990er Jahren, weil es damals nur darum ging, dass die PDS 1994 mit 4,4% der Wählerstimmen, aber vier Direktmandaten in Ostberlin dann doch mit 30 Abgeordneten in den Bundestag einziehen konnte. Traditionell war die CSU in Bayern ja so stark, dass sie bundesweit deutlich über 5% lag, in den 1990er Jahren, als Winfried Bausback seine Dissertation verfasste, dachte bei der Grundmandatsklausel niemand an die CSU. Bei der Bundestagswahl 2021 aber erreichte die Partei bundesweit nur noch 5,2% der Zweitstimmen – da ist die 5-%-Hürde schon sehr deutlich in Sichtweite.
Heute stehen CSU und Linke deshalb im Kampf gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel im Zuge der Wahlrechtsreform 2023 Seite an Seite, auch die Linke klagt in Karlsruhe.
„Der Posten könnte Bausback mehr oder weniger versprochen gewesen sein“
beck-aktuell: Bausback vertrat also in seiner Dissertation eine Auffassung, die der CSU heute überhaupt nicht in den Kram passt und im Zweiten Senat wäre er auch für das Wahlrecht zuständig gewesen. Warum ist das in der CSU niemandem aufgefallen?
Rath: Die Abläufe in der CSU sind mir nicht bekannt, aber ich habe zwei Vermutungen, die ich für plausibel halte. So könnte Bausback als CSU-Kandidat zunächst einfach gesetzt gewesen sein, nachdem er im Jahr 2018 aus Proporzgründen als Justizminister in Bayern ausscheiden musste. Man hört, dass ihm damals mehr oder weniger versprochen worden sein soll, dass er bei einer Besetzung des bayerischen Verfassungsgerichtspostens berücksichtigt wird. Deshalb wurde er womöglich nicht gleich auf Herz und Nieren geprüft, wie man das sonst routinemäßig machen würde, bevor man sich für jemanden entscheidet.
Die zweite Hypothese: Mit Blick auf den näherrückenden Wahltermin hat dann doch mal jemand in die Dissertation geschaut – wohl nicht erst eine Woche vor dem Wahltermin und auch nicht erst, nachdem ich bei LTO die Selbstlosigkeit der CSU gelobt habe. Zu diesem Zeitpunkt wusste man das vermutlich auch in der CSU schon – hat sich aber möglicherweise im langen Ringen mit der CDU ums Vorschlagsrecht nicht selbst ins Knie schießen wollen.
„Kandidaten, die für alle Seiten einigermaßen erträglich sind“
beck-aktuell: Der Vorgang scheint wie ein perfektes Beispiel für den häufig erhobenen Vorwurf, die Wahlen für die Richterinnen und Richter am BVerfG seien zu politisch. Dennoch sind Sie nicht der Auffassung, dass am BVerfG Verhältnisse wie am stark politisierten amerikanischen Supreme Court herrschen. Wo liegt der Unterschied?
Rath: Laut BVerfGG muss die Wahl sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit erfolgen. Das führt dazu, dass nicht eine Partei nur ihre Kandidaten durchsetzen kann, solange sie die Mehrheit hat, wie es in den USA üblich ist. In Deutschland werden Kandidatinnen und Kandidaten gewählt, die für alle Seiten einigermaßen erträglich sind. Die Vorschlagsrechte sind auch pluralistisch verteilt, wobei nach einer Absprache derzeit für jeden Senat SPD und CDU/CSU je drei Vorschlagsrechte haben und Grüne beziehungsweise FDP je einen Richter vorschlagen können. Damit sind beide Senate sozusagen ausgewogen besetzt.
Außerdem ist es verfassungsrichterliche Klugheit, dass das Gericht nach Möglichkeit versucht, einstimmige Beschlüsse und Urteile zu fassen oder jedenfalls nicht mehr als ein oder zwei Sondervoten zu haben. Solche lagerübergreifenden Entscheidungen sorgen für eine höhere Akzeptanz der Urteile und machen die Annahme plausibler, dass das, was das BVerfG entscheidet, Recht ist, das im Grundgesetz gefunden wird – und keine Politik.
„Eine Zwei-Wochen-Frist für Diskussionen“
beck-aktuell: Und doch schlagen Sie seit vielen Jahren vor, dass es jedenfalls auf der Verfahrens-Ebene Veränderungen brauche.
Rath: Mein Vorschlag ist, dass die Person, die im Bundestag oder Bundesrat als Verfassungsrichter gewählt werden soll, zwei Wochen vorher öffentlich benannt werden muss, damit es zumindest die Möglichkeit einer Diskussion gibt. Das sollte in der Demokratie eigentlich selbstverständlich sein. Bis heute sind es nur Journalistinnen und Journalisten, die versuchen, Transparenz zu schaffen und herauszufinden, wer als Verfassungsrichter zur Wahl vorgeschlagen werden soll. Derzeit gibt es ja gar keine Fristen dafür, nicht mal einen Usus. Das hat man gerade bei der Wahl von Generalbundesanwalt Peter Frank zum Verfassungsrichter gesehen: Seine Wahl wurde am vergangenen Freitag um 9.00 Uhr auf die Tagesordnung des Bundesrats gesetzt, also erst eine halbe Stunde vor Sitzungsbeginn. Kurz nach 10.00 Uhr war Peter Frank bereits zum Verfassungsrichter gewählt.
beck-aktuell: Vorfälle wie das etwas peinliche Hin und Her um Bausback werden gern als Grund dafür angeführt, dass die Vorschläge für die Wahlen mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen stattfinden: Die nominierten Personen, meist hochrangige juristische Persönlichkeiten, sollen nicht diskreditiert werden, wenn es hinterher doch nicht klappt.
Rath: Winfried Bausback oder sein Ruf werden ja nicht beschädigt, weil eine Aussage seiner Dissertation heute nicht mehr zur Parteilinie passt. In der öffentlichen Diskussion geht es doch meist um Dinge, die nicht gegen jemanden persönlich sprechen, aber durchaus diskutabel sind – um wissenschaftliche Äußerungen der Person zum Beispiel oder auch um die Nichtberücksichtigung von ganz anderen Aspekten wie dem Geschlechter-Proporz am Gericht.
Die meisten Kandidatinnen und Kandidaten, deren Name bekannt wird und die dann Gegenstand einer öffentlichen Diskussion sein könnten, gehen daraus völlig unbeschädigt hervor und werden einfach gewählt. In den wenigen Fällen, in denen es anders lief, wie zum Beispiel bei Rechtsprofessor Horst Dreier, war die öffentliche Diskussion meines Erachtens sinnvoll.
„Parteien haben kein Interesse an mehr Transparenz“
beck-aktuell: Auch daran, dass der Würzburger Staatsrechtler Dreier im Jahr 2008 nicht Richter des Bundesverfassungsgerichts wurde, hatten Sie einen Anteil.
Rath: Ich habe mir Dreiers Kommentierung zu Art. 1 GG angeschaut, weil die CDU/CSU seine Positionen etwa zur Embryonenforschung kritisierte. Dort habe ich eine Passage entdeckt, die ich als Relativierung des absoluten Folterverbots las. Auch Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ und Amnesty International sahen das dann ähnlich. Für jemanden, der als künftiger Gerichtspräsident das BVerfG auch als Institution vertreten sollte, fand ich das nicht akzeptabel. Später zog die SPD den Vorschlag Dreier zurück und präsentierte Andreas Voßkuhle.
beck-aktuell: Gibt es denn Überlegungen, etwas zu ändern? Oder bleibt alles so intransparent, dass Sie als Journalist weiterhin echte Scoops landen können, wenn Sie als Erster erfahren, wer neu ans höchste deutsche Gericht wechseln soll?
Rath: Es sieht aktuell nicht danach aus, als würde sich an dieser Intransparenz etwas ändern. 2015 wurde das Verfahren für die Wahl der Verfassungsrichter im Bundestag novelliert. Seitdem hat der so genannte Wahlausschuss nur noch ein Vorschlagsrecht und die eigentliche Wahl findet im Plenum statt. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, eine Frist für mehr Transparenz einzuführen. Ich habe damals auch versucht, dafür zu werben – aber die Beharrungskräfte in den Parteien sind sehr groß. Da fast alle Parteien selbst jemanden vorschlagen können, haben sie kein Interesse daran, für mehr Transparenz bei der Verfassungsrichterwahl zu sorgen.
Dr. Christian Rath ist rechtspolitischer Korrespondent und seit 1996 Mitglied der Justizpressekonferenz in Karlsruhe. Der promovierte Jurist beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Rechtsprechung und den Strukturen des Bundesverfassungsgerichts. Er ist unter anderem Autor von „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).
Das Interview führte Pia Lorenz.