Moderner streiten: Die neuen Commercial Chambers und Commercial Courts
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Mit der Einführung englischsprachiger Commercial Courts will der Gesetzgeber den Justizstandort Deutschland stärken. Ob das nun beschlossene Gesetz diesen Anspruch einlösen kann, ist zweifelhaft. Peter Bert sieht das Problem auch im materiellen Recht.

Am 4. Juli 2024 hat der Bundestag das Gesetz zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit (Justizstandort-Stärkungsgesetz) beschlossen. Es hat eine Vorgeschichte, die bis ins Jahr 2010 zurückreicht. Damals startete Hamburg eine Bundesratsinitiative zur Schaffung von "Kammern für internationale Handelssachen", die in englischer Sprache verhandeln können sollten. Vier weitere erfolglose Anläufe folgten, bis der Bundesgesetzgeber in der aktuellen Legislaturperiode handelte.

Auf LinkedIn postete das Bundesjustizministerium, Unternehmen trügen ihre Streitigkeiten vermehrt nicht vor deutschen, sondern vor ausländischen Gerichten oder Schiedsgerichten aus, und behauptete: "Diesen Trend kehren wir mit unserem Gesetzesentwurf zur Stärkung des Justizstandorts Deutschland um."

Ob dieser Anspruch erfüllt wird, ist zweifelhaft. Wenn die Parteien die Zuständigkeit ausländischer Gerichte vereinbaren, dann in aller Regel, weil sie das ausländische materielle Recht wählen. Daran ändert auch eine Reform des deutschen Prozessrechts nichts. In den Stellungnahmen der Verbände zum Gesetzentwurf wurde deutlich, dass die AGB-Kontrolle in B2B-Verträgen die Attraktivität des Justizstandorts Deutschland beeinträchtigt. Hier sollte eine Reform auf der rechtspolitischen Agenda bleiben.

Auch ändert sich durch die Reform nichts an wichtigen Motiven für eine Schiedsvereinbarung, insbesondere nicht an der fast universellen internationalen Vollstreckbarkeit von Schiedssprüchen. Deutsche Urteile sind bei weitem nicht so fungibel.

Im Übrigen zeigen die Patentkammern und -senate in Düsseldorf, Mannheim und München, dass deutsche Gerichte im internationalen Wettbewerb bestehen können, auch wenn sie "nur" in deutscher Sprache verhandeln. Ihr Erfolg beruht auf einer hohen und nachhaltigen Spezialisierung der Richterinnen und Richter und einem aktiven Verfahrensmanagement. Das gilt es bei den Commercial Chambers und Commercial Courts zu replizieren und ist notwendige Bedingung für ihren Erfolg. Dass sie auch in englischer Sprache verhandeln können, ist "nice to have", dürfte aber für sich genommen nicht ausschlaggebend für ihre Wahl sein.

Fünf Bundesländer sind schon an Bord

Der Bundesgesetzgeber ermächtigt mit dem nun beschlossenen Gesetz die Länder durch eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes (§§ 184a, 184b GVG-E), für wirtschaftsrechtliche Rechtsstreitigkeiten neue Spruchkörper einzurichten. Die Länder sind frei, hiervon Gebrauch zu machen.

Wie die Bundesländer das Gesetz mit Leben füllen werden, bleibt abzuwarten. Ziel des Bundesgesetzgebers war es auch, durch länderübergreifende Kooperation ein "inflationäres Entstehen" von Commercial Courts zu vermeiden. Der Gesetzentwurf geht daher von Commercial Courts in fünf Bundesländern aus. Bislang gelten Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Stuttgart und München als gesetzt; das OLG Hamburg schildert auf seiner Homepage bereits detailliert, wie sein drei Senate umfassender Commercial Court aussehen soll. Aber dem Vernehmen nach will auch das Berliner KG seinen Hut in den Ring werfen. 

Streitwert in letzter Minute herabgesetzt

Kern der neuen Struktur ist der "Commercial Court", ein erstinstanzlich zuständiger Zivilsenat eines OLG, der mit spezialisierten Richterinnen und Richtern besetzt ist und Verfahren (auch) in englischer Sprache führen kann. Ergänzt werden sie durch sogenannte Commercial Chambers an ausgewählten LG.

Die Commercial Courts sind ab einem Streitwert von 500.000 Euro zuständig, wenn die Parteien sie gewählt haben oder sich rügelos auf das Verfahren vor ihnen einlassen. Zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens wurde ein Streitwert von zwei Millionen Eurovorgeschlagen. Der Regierungsentwurf sah noch  eine Million Euro als Streitwertgrenze vor. Erst in der letzten Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 16. Mai 2024 (BT-Drs. 20/11466) wurde der Streitwert auf 500.000 Euro gesenkt, um die Anzahl potenzieller Verfahren signifikant zu erhöhen.

Die Zuständigkeitsregelung in § 119b Abs. 1 Nr. 1 und 2 GVG-E lässt sich vereinfacht so darstellen: 

Streitwert über 500.000 EuroStreitwert über 500.000 Euro
Parteien sind Unternehmer (§ 14 BGB)Alle Parteien, auch Verbraucher
  • alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
  • ausgenommen: Streitigkeiten auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheberrechts sowie über Ansprüche nach dem GWG
  • Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Unternehmens oder von Anteilen an einem Unternehmen
  • Streitigkeiten zwischen Gesellschaft und Mitgliedern des Leitungsorgans oder Aufsichtsrats
  • ausgenommen: Beschlussmängelstreitigkeiten, Beschlussverfahren; § 71 Abs. 2 Nr. 4 GVG, § 375 FamFG 

Innerhalb dieses Spektrums können die Länder eine Beschränkung auf einzelne Sachgebiete vorsehen, also noch stärker spezialisierte Commercial Courts einrichten. Der Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts sowie das GWG wurden ausgenommen, weil es dort nach Auffassung des Gesetzgebers schon hinreichend spezialisierte Spruchkörper gebe.

Neben den Commercial Courts am OLG können die Länder an ausgewählten LG für diese Sachgebiete Zivilkammern oder Kammern für Handelssachen, sogenannte Commercial Chambers einrichten (§ 184a GVG-E). Diese sind auf den oben genannten Rechtsgebieten für Streitwerte bis 500.000 Euro zuständig.

Rechtsmittel: zulassungsfreie Revision

Die Berufung gegen ein Urteil einer Commercial Chamber führt zum Commercial Court, sodass das Verfahren über den ganzen Instanzenzug in englischer Sprache geführt werden kann.

Gegen Urteile der Commercial Courts ist zulassungsfrei die Revision zum BGH gegeben (§ 623 ZPO-E). Die Rechtsmittelschrift kann in englischsprachigen Verfahren auch in englischer Sprache eingereicht werden. Allerdings entscheiden die Zivilsenate des BGH selbst, ob sie das Verfahren in englischer Sprache führen (§ 184b GVG-E) wollen.

Besonderheiten im Verfahren

Neben das Angebot, die Verfahren in englischer Sprache (§§ 615 ff ZPO-E) führen zu können, treten weitere Besonderheiten, die aus der Schiedsgerichtsbarkeit übernommen wurden. Sowohl die Commercial Chambers als auch die Commercial Courts müssen zu Beginn des Verfahrens "so früh wie möglich" einen Organisationstermin durchführen, in dem das Gericht mit den Parteien "Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens" trifft (§ 621 ZPO-E).  Weiter wird, wenn es die Parteien wünschen und bezahlen, ein mitlesbares Wortprotokoll der mündlichen Verhandlung einschließlich der Beweisaufnahme erstellt (§ 622 ZPO-E).

Geheimnisschutz in allen Zivilverfahren

Eine Änderung, die im Justizstandort-Stärkungsgesetz enthalten ist, betrifft nicht nur die Verfahren vor den Commercial Chambers und den Commercial Courts, sondern gilt in allen Zivilverfahren. Ein Gericht kann auf Antrag einer Partei streitgegenständliche Informationen als "ganz oder teilweise geheimhaltungsbedürftig" einstufen, wenn diese ein Geschäftsgeheimnis im Sinne des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen sind (§ 273a ZPO-E). Gibt das Gericht dem Antrag statt, dann greifen die prozessualen Schutzwirkungen der §§ 16 bis 20 GeschGehG.

Die Justiz braucht einen langen Atem

Mark Twain wird das Bonmot zugeschrieben, Prognosen seien schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft beträfen. Dennoch sei eine Prognose gewagt: Die Commercial Chambers und Commercial Courts können eine attraktive Alternative für deutsche Parteien sein, die sonst zum LG gegangen wären. Hier tat ein "Update" besonders not, denn gerade die Kammern für Handelssachen hatten in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich an Popularität verloren. Allein vom Jahr 2021 auf das Jahr 2022 betrug der Rückgang der erledigten Verfahren 9,7% (19.072 erledigte Verfahren im Jahr 2022 gegenüber 21.151 im Jahr 2021). Gegenüber dem Jahr 2002 mit 57.469 erledigten Verfahren ergibt sich ein Rückgang um mehr als zwei Drittel (66,8%).

Abgewanderte Verfahren mit Auslandsbezug wird die deutsche Justiz nur langsam und in geringem Umfang zurückgewinnen. Wenn die Justiz ihren selbst gesetzten Anspruch einlöst, dann kann das neue Angebot sich seine Nachfrage schaffen. Dabei wird die deutsche Justiz einen langen Atem brauchen. Zahlen der Internationalen Handelskammer (ICC) zeigen, dass mehr als die Hälfte ihrer Schiedsverfahren auf Schiedsklauseln beruhen, die fünf Jahre und älter sind, mehr als 80% drei Jahre und älter.

Peter Bert ist Partner im Bereich Litigation & Dispute Resolution bei Rimon Falkenfort, Mitglied des Gesetzgebungsausschusses Zivilprozessrecht des Deutschen Anwaltvereins und Mitherausgeber des zpo-Blogs sowie von disputeresolutiongermany.com.

Redaktion beck-aktuell, Peter Bert, 17. Juli 2024.