Anlässlich der kürzlich ergangenen Grundsatzentscheidung des BVerwG zur Dopingpraxis in der DDR drängt sich einmal mehr der Verdacht auf, dass bundesdeutsche Gerichte bestrebt sind, von DDR-Organen begangenes Staatsunrecht klein zu reden. Damit wird Opfern von Willkürmaßnahmen des SED-Regimes die gesetzlich vorgesehene Wiedergutmachung für schwerwiegende Rechtsgutseingriffe vorenthalten.
In seinem Urteil vom 27. März 2024 (8 C 6.23) meint der 8. Senat des BVerwG nicht nur, Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, denen ohne ihr Wissen Dopingmittel verabreicht wurden, seien nicht politisch verfolgt worden – er verneint auch eine Willkürmaßnahme.
DDR wollte im Wettstreit der Systeme mit Spitzensport punkten
Im Wettstreit der Systeme hatte die DDR oft das Nachsehen. Dem suchte die Politik der SED mit Erfolgen bei Sportwettkämpfen etwas entgegenzusetzen. Auf der VII. Zentralen Delegiertenkonferenz der Sportvereinigungen erklärte Erich Mielke, ehemaliger Minister für Staatssicherheit: "Wir können mit vollem Recht sagen, dass wir die uns von den Sportorganisationen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten gewährten Hilfe und Unterstützung gut genutzt und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, die Überlegenheit des Sozialismus auch auf sportlichem Gebiet zu demonstrieren. Das werden wir auch in Zukunft unter Beweis stellen."
Mielke bezog sich dabei auf eine staatlich gelenkte, streng geheim gehaltene Dopingpraxis. Sie begann 1964 mit einer dezentralen "anabolen Phase". DDR-weit setzte sich die Verabreichung anabol-androgener Substanzen im Hochleistungsbereich des Deutschen Turn- und Sportbundes ab 1968 durch.
Nachdem verbesserte Dopingkontrollen ab 1974 befürchten ließen, das Ansehen der DDR könnte Schaden nehmen, sorgte sich die SED um den Verlust ihrer Kontrolle über den Dopingmissbrauch. So entstand auf Grundlage des Beschlusses des Zentralkomitees (ZK) der SED vom 14. Juni 1974 der Staatsplan 14.25. Hierdurch sollte die Dopingpraxis zentralisiert fortgesetzt werden, die Geheimhaltung des Plans lag im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Staatssicherheit. Dopingmittel wurden nach geheimen Richtlinien für "unterstützende Mittel" verabreicht.
Ähnlich viele Tote wie durch Mauerschützen
Dass die Dopingmittel, die auch von der DDR-Regierung offiziell abgelehnt wurden, schwerwiegende gesundheitliche Folgen für Sportlerinnen und Sportler haben konnten, war den damit befassten Spitzenfunktionären durchaus bekannt. Einige von ihnen wurden nach 1990 deshalb wegen Beihilfe zur Körperverletzung rechtskräftig verurteilt.
Schätzungsweise wurden in der DDR 12.000 Personen Dopingmittel verabreicht. Andere Erhebungen gehen von bis zu 15.000 aus. Für mindestens 15 % der Betroffenen hatte die Dopingeinnahme schwerwiegende und langfristige gesundheitliche Folgen. Bis dato sind etwa 300 Personen wegen der Verabreichung von Dopingmitteln in der DDR vorzeitig verstorben. Die Zahl bewegt sich damit in der Größenordnung der Mauertoten.
BVerwG sieht keine bewusste Diskriminierung von Sportlern
Das 1994 erlassene Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) sieht eine Rehabilitierung für Verwaltungsmaßnahmen im Gebiet der ehemaligen DDR vor, die mit wesentlichen Grundsätzen einer rechtsstaatlichen Ordnung schlechthin unvereinbar sind. Davon ist nach § 1 Abs. 2 VwRehaG auszugehen, wenn sie "in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen und der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben."
In seinem Urteil vom 27. März 2024 bejaht der 8. Senat des BVerwG zwar, dass die DDR-Dopingpraxis schwerwiegend gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat. Es bestreitet aber, dass sie auch eine politische Verfolgung oder einen Willkürakt dargestellt habe. Letzteres stützt es auf die Annahme, staatliche Willkür i.S.v. § 1 Abs. 2 VwRehaG setze eine bewusste Diskriminierung gegenüber vergleichbaren Personen voraus, die beim Staatsdoping nicht vorgelegen habe.
Das VwRehaG zielt in der Tat nicht auf die Aufarbeitung der gesamten rechtsstaatswidrigen Verwaltungspraxis in Sowjetischer Besatzungszone und DDR ab. Vielmehr folgt aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 12/4994, S. 23), dass systemimmanentes Unrecht, das jede Person in vergleichbarer Weise treffen konnte, nicht rehabilitiert werden soll. Erfasst werden damit allein Fälle, die sich deutlich von der in der DDR üblichen Beeinträchtigung abheben und als "drastisches Sonderopfer erscheinen".
§ 1 Abs. 2 VwRehaG nennt daher die subjektiven Tatbestandselemente der politischen Verfolgung und des Willkürakts. Den Begriff des Willkürakts konkretisierte der Gesetzgeber seinerzeit so, dass er alle Fälle erfassen sollte, in denen "der Betroffene bewußt gegenüber vergleichbaren Personen diskriminiert wurde." Sie seien zu rehabilitieren, "da sie manifester Ausdruck eines Systems sein können, das seine Bürger schutzlos der Willkür von Amtsträgern auslieferte" (BT-Drucks. 12/4994, S. 25).
Doping war Willkürakt des Staates
Durch die Dopingpraxis sind Spitzensportler zwar nicht politisch verfolgt worden, weil sie nicht etwa wegen ihrer Klassenzugehörigkeit oder politischer Ansichten ausgegrenzt und kaltgestellt wurden. Dem BVerwG ist aber entschieden zu widersprechen, soweit es auch Willkürakte in Abrede stellt.
Doping zählte in der DDR nicht zum Systemunrecht, das mehr oder weniger jede Person in vergleichbarer Lage treffen konnte. Offiziell galt Doping vielmehr als unzulässig. An Wettkämpfen teilnehmende Sportlerinnen und Sportler wurden daher keineswegs flächendeckend gedopt, die Substanzen wurden nur im Spitzensport verabreicht. Dass Doping kein systembedingtes Unrecht war, belegt auch seine von der Staatssicherheit gezielt organisierte Geheimhaltung. Da es somit nicht zum Systemunrecht der DDR zählte und seine gesundheitsschädigenden Maßnahmen bekannt waren, wurden die Betroffenen gegenüber anderen Sportlerinnen und Sportlern in der DDR diskriminiert. Davor verschließt das BVerwG die Augen.
Fehl geht auch die Annahme des Gerichts, der Gesetzgeber habe mit Erlass des Doping-Opfer-Hilfegesetzes (DOHG), das aus humanitären und sozialen Gründen finanzielle Hilfen gewährt, zu verstehen gegeben, dass keine Rechtsansprüche der Opfer des staatlichen Dopings bestehen. Das Gegenteil ergibt sich vielmehr aus § 8 Abs. 1 S. 1 DOHG, der lautet: "Ansprüche wegen desselben Lebenssachverhalts aus anderen Rechtsgründen bleiben unberührt."
Glied in einer Kette richterlicher Verharmlosungen von SED-Unrecht
Soweit das Urteil des 8. Senats des BVerwG die mit dem Doping verübte Willkür verharmlost, steht es in einer ganzen Reihe von Judikaten, die tatsächlich begangenes Unrecht des SED-Regimes klein reden und deshalb die gesetzlich eingeforderte Aufarbeitung unterlassen.
Hier reiht sich die Rechtsprechung ein, die das spätestens seit 2012 bekannte System der Spezialheime, das flächendeckend mit brutalsten Methoden auf die Zerstörung der Persönlichkeit eingewiesener Kinder und Jugendlicher abzielte, völlig ausblendete und nur aufgrund von Angaben in den Jugendhilfeakten die Rehabilitierung ablehnte. Diese mit dem Gesetz unvereinbare Rechtsprechung hat der Gesetzgeber 2019 durch Einführung einer gesetzlichen Vermutung korrigiert.
Erwähnt sei auch die Rechtsprechung, die mit abenteuerlichen Begründungen den Strafcharakter der im sowjetischen Machtbereich angewandten Kontrollratsdirektive Nr. 38 und der auf Betreiben der bürgerlichen Parteien CDU und LPD anlässlich des sächsischen Volksentscheides erlassenen Strafnormen bestreitet, um davon betroffene Unternehmer nicht zu rehabilitieren. Flächendeckend lehnt daneben das BVerwG die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung von vermögensschädigenden Verfolgungsmaßnahmen ab, wenn das SED-Regime mit der politischen Verfolgung auf den Vermögenswert abzielte. Rehabilitiert werden nur Verfolgte, bei denen die Vermögensschädigung Folge eines anderweitigen Rechtsgutseingriffs gewesen ist. Politisch Verfolgte werden so nur aufgrund der willkürlichen Ausgestaltung der Verfolgung durch das SED-Regime regelmäßig nicht rehabilitiert.
Nach der deutschen Wiedervereinigung hat der frühere Präsident des BVerfG Hans-Jürgen Papier die Erwartung geäußert, das Versagen der bundesdeutschen Rechtsprechung durch Verharmlosung von NS-Unrecht möge sich bei der Aufarbeitung von SED-Unrecht nicht wiederholen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt.
Der Autor Dr. Johannes Wasmuth ist als Rechtsanwalt in München tätig. Er befasst sich seit über 30 Jahren mit der Aufarbeitung von NS- und SED-Unrecht und hat dazu umfangreich publiziert.