Alle vier Jahre durften die
Wählerinnen und Wähler dieser Republik bislang unter nahezu identischen
Überschriften das immer gleiche Phänomen bestaunen: "Warum der Bundestag so
groß ist wie nie", "Das Parlament wächst und wächst", "Das XXL-Parlament". Seit
Jahren wächst der Bundestag mit jeder Wahl aufs Neue, gegenwärtig sind es
stolze 734 Mandate. Die Normalgröße liegt eigentlich bei 598.
Es handelt sich um einen dieser Zustände, die nicht gut sind, aber auch nicht schlimm genug, um die nötige politische Energie aufzubringen, um sie zu ändern. Zumal diejenigen Abgeordneten, die über eine Verkleinerung abstimmen müssten, möglicherweise den Ast absägen würden, auf dem sie sitzen. Die Ampel-Regierung hat es dennoch gewagt: Im Juni 2023 ist eine Reform des Bundestags-Wahlrechts in Kraft getreten, die das Parlament verkleinern und dauerhaft auf 630 Abgeordnete begrenzen soll.
Anschließend dauerte es genau einen Tag, ehe die bayerische Staatsregierung und die
CSU ihre Eingaben gegen die Änderung des BWahlG nach Karlsruhe sandten. Heute
liegen dort insgesamt zwei Normenkontrollverfahren der bayerischen Regierung
und von 195 Bundestagsabgeordneten der Unionsfraktion, außerdem drei
Organstreitverfahren von CSU, LINKE und der – inzwischen zur Gruppe
verkleinerten – Fraktion DIE LINKE. Hinzu kommen zwei Verfassungsbeschwerden
von mehr als 4.000 Privatpersonen und von LINKE-Bundestagsabgeordneten sowie
noch einmal über 200 Privatpersonen. Über all diese Angriffe verhandelt ab dem
morgigen Dienstag das BVerfG (2 BvF 1/23 und andere).
Der Bundestag wächst und wächst
Grund für das stetige Anwachsen
des Bundestags waren die sogenannten Überhang- und Ausgleichsmandate. Dies
hängt mit der Aufteilung von Erst- und Zweistimme zusammen, die alle
Bürgerinnen und Bürger vom Wahlzettel kennen. Mit der Erststimme wählte man die
Direktkandidatin oder den Direktkandidaten des Wahlkreises. Diese zogen, sofern
siegreich, direkt ins Parlament ein. Mit der Zweitstimme wählte man hingegen
die jeweilige Landesliste einer Partei. Diese ist maßgeblich für die
Sitzverteilung im Bundestag, bestimmt also die Mehrheitsverhältnisse unter den
Parteien. Dies war bislang der Kern des personalisierten Verhältniswahlrechts
der Bundesrepublik.
Wenn nun aber eine Partei über
die Erststimmen mehr Direktmandate errang, als ihr nach der
Zweitstimmenverteilung zustanden, erhielt sie damit Überhangmandate, das heißt solche, die über ihren vom Zweitstimmenergebnis vorgegebenen Anteil
hinausgingen. Dies musste dann durch Ausgleichsmandate kompensiert werden,
mittels derer den anderen Parteien zusätzliche Sitze zugestanden wurden, um das
richtige Verhältnis wieder herzustellen. Das beruht wiederum auf einer Reform
des Wahlrechts von 2013, die bereits infolge eines BVerfG-Urteils zustande kam.
Darin hatte sich das Gericht mit dem Konflikt der Überhangmandate mit dem
Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit beschäftigt und jedenfalls für eine hohe
Anzahl Überhangmandate einen Ausgleich gefordert. Der Gesetzgeber übererfüllte
diesen Anspruch, weshalb 2017 und 2021 die Zahl der Mandate stark anwuchs.
Überhangmandate sind indes kein
Phänomen der neueren Zeit, sondern im System im Grunde angelegt. Allerdings hat
sich deren Anzahl inzwischen drastisch erhöht: Bei der ersten Bundestagswahl
1949 gab es nur zwei Überhangmandate, 2021 waren es 34. Um diese zu
kompensieren, waren dann 104 Ausgleichsmandate nötig.
Nun ist ein großer Bundestag aus diversen Gründen ein Problem. Zum einen wären da die Kosten, die dadurch verursacht werden: Die Mehrkosten, die das heutige Parlament gegenüber dem der vergangenen Legislaturperiode verursacht, werden im dreistelligen Millionenbereich beziffert – pro Jahr. Doch es sind auch nicht-monetäre Aspekte, die die Rufe nach einer Verkleinerung in den vergangenen Jahren parteiübergreifend und auch unter Experten und Expertinnen immer lauter haben werden lassen. Zum einen kritisieren Parlamentarierinnen und Parlamentarier mitunter selbst, dass mit einer so großen Zahl Abgeordneter der Abstimmungsaufwand steige und gerade die Arbeit in Ausschüssen und Arbeitsgruppen zäher und schwieriger werde. Hinzu kommt die gar nicht triviale Frage, wo all die neuen Abgeordneten mit ihrem Mitarbeiterstab Platz finden sollen. Sogar der damals noch amtierende Präsident des BVerfG, Andreas Voßkuhle, bedauerte daher 2017 öffentlich das Scheitern einer Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Parlaments.
Was die Ampel beschlossen hat
Die Reform des Wahlrechts soll
diese jahrelange Baustelle endlich beheben und stützt sich dabei vor allem auf
zwei wesentliche Änderungen.
Der erste Punkt ist eine
erhebliche Abwertung der Erststimmen, die künftig nur noch eine eingeschränkte
Bedeutung haben werden. Parteien sollen demnach nur noch so viele Sitze
erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Falls eine Partei über
die Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr gemessen am
Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, findet unter den Erststimmen-Siegerinnen
und -Siegern eine Auslese statt. Wer unter ihnen die schwächsten Stimmanteile
erzielte, schafft es im Zweifel nicht ins Parlament, obwohl er oder sie den
eigenen Wahlkreis gewonnen hat.
Außerdem soll auch die
sogenannte Grundmandatsklausel zugunsten einer starren 5%-Hürde
wegfallen. Zwar ist auch bislang Voraussetzung für den Einzug in den Bundestag,
dass eine Partei mindestens 5% der Stimmen auf sich vereinen kann. Allerdings
können auch solche Parteien Abgeordnete nach Berlin entsenden, die zwar diese
Hürde nicht überwinden, jedoch mindestens drei Direktmandate gewonnen haben.
Sind Stimmen nun nicht mehr
gleich viel wert?
Vor dem BVerfG geht es nun
insbesondere darum, ob die neuen Regeln die Wahlrechtsgleichheit aus
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und das Recht auf Chancengleichheit der Parteien
aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verletzen.
Nach ersterem muss jeder Stimme
der gleiche Zählwert und der gleiche Erfolgswert zukommen. Das bedeutet zum
einen, dass jede Stimme gleich viel zählen, und zum anderen, dass jede
Stimme das gleiche Gewicht für die Zusammensetzung des Parlaments haben muss.
Bei der Wahlrechtsreform liegt das Problem nun darin, dass den schwächsten
Direktkandidatinnen und -kandidaten der Einzug in den Bundestag verwehrt
bleibt, die Stimmen für sie also gewissermaßen "verloren" sind, während die
Erststimmen für solche Kandidatinnen und Kandidaten, die letztlich in den
Bundestag einziehen, da ihre Wahl durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist,
ihre Wirkung behalten. Hiergegen argumentieren Verteidigerinnen und Verteidiger
der Reform, die Erststimme sei durch die systemische Änderung, nach welcher die
Zusammensetzung des Bundestags nur durch die Zweitstimme bestimmt werde,
ohnehin in ihrer Bedeutung herabgestuft.
Die Abschaffung der
Grundmandatsklausel verschärft unterdessen die Wirkung der 5%-Hürde,
kleine Parteien aus dem Parlament herauszuhalten. Diese Regelung, die als Lehre
aus der gescheiterten Weimarer Republik, als Splitterparteien die politische
Willensbildung behinderten und so zur Politikverdrossenheit beitrugen, Eingang
in das Wahlrecht der Bundesrepublik fand, ist vom BVerfG grundsätzlich
gebilligt worden. Allerdings stellt sie zugleich einen Eingriff in die viel
zitierte Chance von Minderheiten dar, politisch zur Mehrheit zu werden. Denn
wem der Zutritt auf die große Bühne der Politik verwehrt bleibt, der hat es
schwerer, bekannt zu werden. Außerdem, so eine weitere Kritik, würden hierdurch
auch kleinere, aber regional stark verankerte Parteien aus dem Parlament
gedrängt, was die Integrationsfunktion der Wahl beeinträchtige.
Sowohl CSU als auch LINKE haben auch ein eigenes politisches Interesse, die Wahlrechtsreform anzugreifen:
Beide könnten in einem künftigen Bundestag nicht mehr vertreten sein.
Insbesondere die CSU, die in Bayern nach wie vor die große Mehrheit der Wahlkreise
gewinnt, würde vom neuen System der Zweitstimmendeckung voraussichtlich
jedenfalls empfindlich getroffen. Doch auch die Linke zog bereits 2021 nur
aufgrund der Grundmandatsklausel noch in den Bundestag ein. Dementsprechend
scharf waren die Töne vor und nach Verabschiedung des neuen Wahlrechts.
CSU-Politiker Alexander Dobrindt sprach sogar von einer
Insofern wird das BVerfG in diesem Verfahren nicht nur die Grundlagen des deutschen Wahlsystems in den Blick nehmen und womöglich neu bewerten, sondern könnte auch die künftigen Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestags signifikant beeinflussen.