Sui­zid­ge­fahr: Ge­richt muss über Aus­lie­fe­rung in Tür­kei neu ent­schei­den

Das OLG Braun­schweig muss neu dar­über ent­schei­den, ob ein sui­zid­ge­fähr­de­ter Türke zur Voll­stre­ckung einer Haft­stra­fe in die Tür­kei aus­ge­lie­fert wer­den darf. Laut BVerfG wurde der Mann in sei­nem Grund­recht auf ef­fek­ti­ven Rechts­schutz ver­letzt, da das OLG sei­nen Auf­klä­rungs­pflich­ten nicht ge­nügt habe.

Der Mann war in der Tür­kei wegen Dieb­stahls und mehr­fa­chen "qua­li­fi­zier­ten Dieb­stäh­len" zu einer mehr­jäh­ri­gen Ge­samt­frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt wor­den. Die Tür­kei ver­lang­te seine Aus­lie­fe­rung, das OLG ord­ne­te Aus­lie­fe­rungs­haft an. Zu die­sem Zeit­punkt be­fand sich der Mann im Ma­ß­re­gel­voll­zug. Dort ver­such­te er, sich selbst zu töten. Die ärzt­li­che Lei­tung der Ein­rich­tung warn­te, dass ein hohes Ri­si­ko eines er­neu­ten Sui­zid­ver­suchs be­stün­de. Der Mann sei auf­grund der dro­hen­den Aus­lie­fe­rung und Haft in der Tür­kei "nicht aus­rei­chend von sei­ner Sui­zi­da­li­tät di­stan­ziert". Nach sei­ner Ent­las­sung aus dem Ma­ß­re­gel­voll­zug wurde der Haft­be­fehl aber in Voll­zug ge­setzt und der Mann in­haf­tiert.

Das OLG er­klär­te die Aus­lie­fe­rung schlie­ß­lich für zu­läs­sig. Daran än­der­ten auch die Stel­lung­nah­men zwei­er wei­te­rer Ärzte nichts, die der Mann dem OLG vor­leg­te. Darin hatte der JVA-An­stalts­arzt drin­gend von einer Aus­lie­fe­rung in die Tür­kei ab­ge­ra­ten. Der In­haf­tier­te müsse wegen der Ver­let­zun­gen, die er bei sei­nem Sui­zid­ver­such da­von­ge­tra­gen habe, täg­lich me­di­zi­nisch be­han­delt wer­den, diese Be­hand­lung sei in der Tür­kei nicht mög­lich. Au­ßer­dem hatte ein Fach­arzt für Psych­ia­trie ihn als nicht trans­port­taug­lich ein­ge­stuft. Das OLG sah die Sui­zi­da­li­tät des Man­nes des­sen Aus­lie­fe­rung nicht ent­ge­gen­ste­hen. Es ver­wies dar­auf, dass die Haft­an­stalt Yal­vaç über einen fest­an­ge­stell­ten Psy­cho­lo­gen ver­fü­ge. Damit könne sui­zi­da­len Ten­den­zen "aus­rei­chend be­last­bar" be­geg­net wer­den. Im vo­ri­gen De­zem­ber hatte das BVerfG die Aus­lie­fe­rung des Man­nes einst­wei­lig un­ter­sagt.

Un­zu­rei­chen­de Auf­klä­rung

Auf die Ver­fas­sungs­be­schwer­de des Man­nes hat das BVerfG nun die Ent­schei­dun­gen des OLG auf­ge­ho­ben und die Sache zu­rück­ver­wie­sen (Be­schluss vom 21.05.2024 - 2 BvR 1694/23). Das OLG habe ihn in sei­nem Grund­recht auf ef­fek­ti­ven Rechts­schutz aus Art. 19 Abs. 4 GG ver­letzt, indem es seine Aus­lie­fe­rung für zu­läs­sig er­klärt hat. Es habe nicht aus­rei­chend auf­ge­klärt, ob der Ge­sund­heits­zu­stand des Man­nes Maß­nah­men zur Ver­hin­de­rung eines er­neu­ten Sui­zid­ver­suchs er­for­dert. Ge­ra­de an­ge­sichts des un­ter­nom­men Sui­zid­ver­suchs sei un­klar, warum das OLG kei­nen Sach­ver­stän­di­gen hin­zu­ge­zo­gen habe. Die ärzt­li­chen Stel­lung­nah­men "ent­hiel­ten ge­wich­ti­ge Grün­de im Sinne der Recht­spre­chung des EGMR für die An­nah­me, dass im Falle der Durch­füh­rung der Aus­lie­fe­rung tat­säch­lich die Ge­fahr eines er­neu­ten Sui­zid­ver­suchs be­stehe". Dass die Stel­lung­nah­me des Psych­ia­ters laut OLG Ten­den­zen eines "Ge­fäl­lig­keits­gut­ach­ten" auf­wei­se, än­de­re in An­be­tracht der Be­den­ken von drei wei­te­ren Ärz­ten nichts.

Der pau­scha­le Hin­weis des OLG auf eine psy­cho­lo­gi­sche Be­treu­ung in der tür­ki­schen Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt ge­nü­ge nicht. Es sei schon un­ge­klärt, ob dies rei­che, um einen sui­zi­da­len Häft­ling ad­äquat zu be­han­deln. Au­ßer­dem weist das BVerfG dar­auf hin, dass die Sui­zid­ge­fahr nicht nur nach der Aus­lie­fe­rung, son­dern ge­ra­de auch wäh­rend des Trans­ports be­stehen könne – was das OLG über­se­he.

Im De­zem­ber hatte das BVerfG eine Ent­schei­dung des OLG Celle über eine Aus­lie­fe­rung in die Tür­kei ge­kippt, weil das OLG nicht ge­nü­gend auf­ge­klärt hatte, ob der Aus­zu­lie­fern­de dort ein fai­res Ver­fah­ren be­kom­me.

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BVerfG, Beschluss vom 21.05.2024 - 2 BvR 1694/23

Redaktion beck-aktuell, hs, 4. Juni 2024.

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