Bundesjustizministerin Stefanie Hubig fordert Konsequenzen nach dem Rückzug der von der SPD nominierten Verfassungsrichterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. "Mir ist wichtig: Wir brauchen mehr Sorgfalt und Objektivität in unseren Debatten", sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. "Kampagnen" dürften nicht dazu führen, dass man talentierte und qualifizierte Bewerber - und vor allem Bewerberinnen - verliere.
"Das ist eine Entwicklung, die wir uns schlichtweg nicht leisten dürfen und die weder im Interesse unseres Rechtsstaats noch des Bundesverfassungsgerichts ist", sagte Hubig. "Wir müssen daraus lernen - alle gemeinsam. Es geht um eine bessere Diskussionskultur und darum, solchen Angriffen auf die Demokratie künftig besser standzuhalten."
Hubig ergänzte, sie bedauere den Rückzug von Brosius-Gersdorf sehr und habe großen Respekt vor ihrer Entscheidung. "In den vergangenen Wochen waren sie und ihre Familie extremen persönlichen Anfeindungen und Belastungen ausgesetzt. Kampagnenartig gesteuert wurde versucht, Zweifel an einer weithin anerkannten Staatsrechtlerin zu säen." Brosius-Gersdorf wäre fachlich und persönlich eine ausgezeichnete Besetzung für das Bundesverfassungsgericht gewesen.
Brosius-Gersdorf zieht sich zurück
Die vor allem in der Union umstrittene Brosius-Gersdorf hatte am Donnerstag mitgeteilt, dass sie nicht länger für eine Kandidatur als Richterin am BVerfG zur Verfügung steht. Ihr sei aus der CDU/CSU-Fraktion sehr deutlich signalisiert worden, dass ihre Wahl ausgeschlossen sei, hieß es in einem über eine Bonner Kanzlei verbreiteten Schreiben. Zudem kritisierte die Staatsrechtlerin Teile der Medien, auch wenn die Berichterstattung dann sachlicher geworden sei.
Die Wahl von Brosius-Gersdorf und zwei weiteren Kandidaten für das BVerfG war im Juli im Bundestag kurzfristig abgesetzt worden, weil der Widerstand in der Unionsfraktion gegen die SPD-Kandidatin zu groß geworden war. Die Fraktionsspitze konnte die mit dem Koalitionspartner verabredete Unterstützung nicht mehr garantieren.
Blick zurück: SPD mit viel Kritik am Koalitionspartner
SPD-Fraktionschef Matthias Miersch schrieb in einem Brief an seine Abgeordneten, CDU und CSU müssten sich nun zu den Spielregeln des Regierens bekennen. "Nur wenn Zusagen Bestand haben, sind tragfähige Kompromisse möglich. Nur dann können wir Vertrauen zurückgewinnen und politische Handlungsfähigkeit sichern."
Die Unionsspitze habe zunächst wiederholt ihre Zustimmung zu Brosius-Gersdorf signalisiert. "Dass sich zentrale Teile der CDU/CSU-Fraktion am Ende davon distanziert haben, erschüttert nicht nur Vertrauen, sondern stellt das Fundament infrage, auf dem demokratische Zusammenarbeit überhaupt möglich ist." Weiter schrieb Miersch: "Vielleicht fragen sich einige von Euch, wie belastbar diese Koalition überhaupt noch ist, wenn sich der andere Partner nicht an Absprachen hält. In dem Zustand, in dem sich die Unionsfraktion bei der Richterwahl präsentiert hat, ist diese Frage berechtigt."
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner sagte dem RND zum Rückzug von Brosius-Gersdorf: "Der Tag wird in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem der rechte Mob erstmals einen Triumph gefeiert hat. Die demokratischen Parteien haben sich demgegenüber als wehrlos erwiesen." Die Union müsse endlich verstehen, welchen Dammbruch sie ermöglicht habe. "Beigetragen hat dazu eine Mischung aus Böswilligkeit, Fahrlässigkeit und Schlafwandlerei", sagte Stegner. "Eine Wiederholung eines solchen Vorgangs muss ausgeschlossen werden. Merz und Spahn müssen öffentlich deutlich signalisieren, dass sie begriffen haben, was da auf dem Spiel steht."
"Blick nach vorn": Frei rechnet mit neuem Vorschlag
Kanzleramtschef Thorsten Frei rechnet für die kommenden Wochen mit einem neuen Personalvorschlag. Er sei sicher, dass die Fraktionen von Union und SPD "in der Lage sein werden, in den nächsten Wochen einen Vorschlag zu präsentieren, der dann auch über die Mehrheitsfähigkeit im Parlament verfügt und dafür sorgt, dass die Richter in Karlsruhe ersetzt werden können", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.
Er ergänzte, Brosius-Gersdorf sei "unzweifelhaft eine untadelige Juristin", sie sei aber nicht mehrheitsfähig und von Anfang an sehr umstritten gewesen. Er räumte ein, "dass man natürlich darauf auch früher hätte reagieren können, auch gegenüber der SPD". Jetzt müsse man aber den Blick nach vorn richten und "schauen, dass man diese Aufgabe so schnell wie möglich lösen kann".
Die schwarz-rote Koalition sieht Frei durch die Vorgänge rund um die Richterwahl nicht gefährdet. Er sei überzeugt, "dass die Regierung insgesamt sich auf eine starke Basis in der Unionsfraktion und in der SPD-Fraktion stützen kann." Deswegen habe er auch keinen Zweifel, dass die Zusammenarbeit in der Koalition gut fortgesetzt werden könne.
Viel Kritik aus der Opposition
Linken-Chefin Ines Schwerdtner sagte dem Portal t-online, die Vorgänge um Brosius-Gersdorf seien ein Armutszeugnis für die Bundesregierung. Unionsfraktionschef Jens Spahn habe seine Fraktion nicht im Griff, und die Sozialdemokraten hätten "die Durchsetzungskraft eines schlafenden Kaninchens". So werde eine Regierung keine vier Jahre durchhalten können. Bei künftigen Richterwahlen im Bundestag fordert Schwerdtner ein Vorschlagsrecht und einen Platz am Tisch für ihre Partei.
Die Grünen-Fraktion reagierte entgeistert auf den Rückzug. Die beiden Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann zweifelten die Handlungsfähigkeit der schwarz-roten Koalition an. Brosius-Gersdorf sei eine "exzellente, hoch qualifizierte Juristin", betonten sie. "Es ist absolut inakzeptabel, dass die CDU-Fraktion ihre Unterstützung zurückgezogen hat und eine Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf jetzt kategorisch ablehnt." Die Verantwortung dafür trage Unionsfraktionschef Jens Spahn, der sein Wort gegeben habe und nicht mehr halten könne. Auch der SPD machten Dröge und Haßelmann Vorwürfe. "Wir fragen uns, wieso die SPD offenbar bereit war, ein Nein der CDU zu akzeptieren. Dieses Verhalten ist schwach."
Die beiden Grünen-Politikerinnen bedankten sich bei Brosius-Gersdorf. "Es ist absolut inakzeptabel und ungeheuerlich, dass eine so angesehene Juristin von CDU und SPD für das Bundesverfassungsgericht während dieses Verfahrens von Lügen, Desinformationen und einer hetzerischen Kampagne derart getroffen wurde." Durch das "chaotische und unzuverlässige Vorgehen der Koalition, insbesondere der CDU/CSU und auch der SPD" sei ein Schaden für das Wahlverfahren für Richter am Bundesverfassungsgericht entstanden. "Wir halten jetzt Gespräche zwischen den demokratischen Fraktionen im Bundestag für notwendig."
Anders sieht man dies in der AfD. Stephan Brandner, stellvertretender Bundessprecher der Partei, nennt den Rücktritt "längst überfällig und einen kleinen Sieg der Vernunft und der Vernünftigen". Wer nicht auf dem Boden der Verfassung stehe und Werte vertrete, die nichts mit unserem Grundgesetz gemein haben, könne unmöglich Verfassungsrichter werden, meinte der AfD-Politiker.