Julian Reichelt war bereits in seinen Tagen als Bild-Chef für seinen polemischen und zuspitzenden Ton bekannt. Diese Eigenschaft hat er sich auch als Kommentator auf seinem Youtube-Kanal "Achtung, Reichelt!" bewahrt, der zum Medienportal Nius gehört. Dort wütet er nun regelmäßig gegen die Ampel-Regierung und alles "Links-Grüne". Dass dabei zuweilen vielleicht die Grenzen des guten Geschmacks und mitunter auch des Journalismus überschritten werden, ist eine Sache. Polemische Kritik darf sich die Bundesregierung aber nicht grundsätzlich verbitten. Hieran erinnert nun das BVerfG, das mit einer am Dienstag veröffentlichten Kammerentscheidung eine einstweilige Anordnung des KG in Berlin aufhob (Beschluss vom 11.04.2024 - 1 BvR 2290/23).
Im August vergangenen Jahres, gut zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, veröffentlichte Nius einen Artikel mit der Überschrift "Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan". Darin ging es um Entwicklungshilfe, welche die Bundesregierung an das nun von der Terrorgruppe regierte Land zahle: "Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor zwei Jahren hat die Bundesregierung 371 Millionen Euro für Entwicklungshilfe im Land bereitgestellt. (…)" hieß es im Artikel.
Reichelt bewarb den Artikel kurz danach auf X - ehemals Twitter - von seinem persönlichen Account aus. Neben einem Link zum Artikel schrieb er: "Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!".
KG: Unwahre Tatsachenbehauptung, die Vertrauen in die Regierung untergräbt
Wenige Tage danach ließ die Bundesregierung - hier vertreten durch das von Svenja Schulze (SPD) geleitete Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - Reichelt per anwaltlichem Schriftsatz abmahnen, da es sich bei seinem Post auf X um eine falsche Tatsachenbehauptung handele. Das Ministerium argumentierte, es sei kein Euro aus Deutschland an die Taliban geflossen, lediglich an Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen.
Nach Ablauf der gesetzten Frist beantragte das Ministerium eine einstweilige Verfügung gegen Reichelt, die Äußerung zu unterlassen. Der Antrag wurde zunächst durch das LG Berlin zurückgewiesen, hatte dann jedoch vor dem KG Erfolg: Das Gericht untersagte Reichelt, die Äußerung aus seinem Post im August 2023 weiter zu verbreiten oder zu veröffentlichen, da es sich um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele, die dazu geeignet sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise des Bundesministeriums und deren Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen.
Reichelts hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde war nun erfolgreich, das BVerfG hob in einer Kammerentscheidung die Entscheidung des KG auf und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Berliner Gericht zurück. Dessen Entscheidung verletze Reichelt in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG, befand die 1. Kammer des Ersten Senats einstimmig. Sie verfehle erkennbar "den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung".
BVerfG hebt Bedeutung von Regierungskritik hervor
Zunächst stellte das BVerfG klar, dass der Staat grundsätzlich keinen Ehrschutz genieße und auch scharfe und polemische Kritik aushalten müsse. Zwar seien auch staatliche Einrichtungen in gewissem Umfang vor verbalen Angriffen geschützt, "da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen". Diesem Schutz zog die Kammer sodann aber enge Grenzen, da er nicht dazu führen dürfe, den Staat gegen öffentliche Kritik zu immunisieren, die vom Grundrecht der Meinungsfreiheit besonders gewährleistet werden solle. Es gebe demnach ein besonderes "Schutzbedürfnis der Machtkritik", so das Gericht.
Dieses sah man in der Entscheidung des KG schon deshalb nicht gewahrt, weil das Gericht den Sinn der Äußerung Reichelts auf X verkannt habe, indem es darin vorschnell eine Tatsachenbehauptung gesehen habe. Stattdessen könnte es sich um eine pointierte Meinungsäußerung gehandelt haben, so das BVerfG. Aus der Sicht eines Durchschnittslesers habe es aufgrund des unter dem Post verlinkten Nius-Artikels und der dazu wiedergegebenen Vorschau einen inhaltlichen Bezug der Äußerung zum Artikel gegeben. Die Schlagzeile des Artikels, die von Entwicklungshilfe für Afghanistan und nicht für die Taliban sprach, war unter dem Post sichtbar gewesen.
Kontext von Äußerung und verlinktem Artikel wichtig
Diesen Kontext habe das KG bei seiner Entscheidung aber ausgeblendet, befand die Kammer. Statt einer Tatsachenbehauptung, die Bundesregierung zahle tatsächlich direkt an die Taliban, könnte sich aus dem Zusammenspiel mit der Schlagzeile auch eine Meinungsäußerung ergeben, dass die Gefahr bestehe, dass eine solche Entwicklungshilfe an Afghanistan faktisch an die Taliban fließen werde, führte das BVerfG aus.
Außerdem, so die Kammer, sei Kritik an der Bundesregierung auch dann als Meinungsäußerung geschützt, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen vermengten. Zudem habe weder die Bundesregierung Zahlungen von Entwicklungshilfe, die nach Afghanistan fließt, in Abrede stellt, noch habe das KG selbst in Zweifel gezogen, dass die Gefahr bestehe, dass die Mittel über Umwege tatsächlich an die Taliban flössen.
Das KG hat damit nun unter Berücksichtigung dieser Maßgaben neu über die Sache zu entscheiden.
Unter Presserechtlern erregte die Entscheidung des BVerfG auch aufgrund prozessualer Gesichtspunkte große Aufmerksamkeit. Die Kammer rügte nämlich an der Verfassungsbeschwerde Reichelts keine fehlende Rechtswegerschöpfung, obwohl dieser weder das Verfahren in der Hauptsache, noch den Widerspruch nach § 936 ZPO i. V. m. § 924 ZPO bemüht hatte. Dies sei aufgrund der bereits sehr eingehenden Prüfung des KG, das in beiden Fällen letztlich wieder zu entscheiden gehabt hätte, ohnehin aussichtslos gewesen. Der Rechtsanwalt Oliver Löffel prohezeite auf LinkedIn, die Entscheidung werde die künftige Prozesstaktik in solchen Eilverfahren verändern und den Karlsruher Richterinnen und Richtern mehr Arbeit bescheren. Der Medienrechtsanwalt Markus Kompa sprach auf X gar von einem "Erdrutsch".*
*Der letzte Absatz wurde am Tag der Veröffentlichung um 13:10 Uhr nachträglich eingefügt.