Triage-Regelung nichtig: Alles zurück (auf Los?)
© Adobe Stock / Peakstock

Das BVerfG verpflichtete "den Gesetzgeber" dazu, eine Regelung zu treffen, wie im Pandemie-Notfall knappe Behandlungskapazitäten zu verteilen sind. Dass es damit nicht den Bund gemeint haben könnte, wird erst jetzt klar. Und nun?

Entscheidungen des BVerfG können dann und wann eine Überraschung beinhalten, das hat sich am Dienstag erneut bestätigt. Denn den Beschluss des Ersten Senats über zwei Verfassungsbeschwerden gegen die Triage-Regelung in § 5c IfSG hatten so wohl nur wenige kommen sehen. Das Gericht erklärte die Norm für verfassungswidrig und damit nichtig - doch nicht etwa, weil es den inhaltlichen Einwänden der Beschwerdeführerinnen und -führer gefolgt wäre, sondern weil dem Bund für eine solche Regelung schlicht die Gesetzgebungskompetenz fehle (Beschluss vom 04.11.2025 - 1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23).

Ein kurzer Rückblick: In den frühen Tagen der Pandemie kam es unter anderem im norditalienischen Bergamo zu dramatischen Szenen, als die Krankenhäuser dem plötzlichen Anfall von zahlreichen beatmungsbedürftigen Patientinnen und Patienten nicht mehr standhalten konnten und Menschen vermutlich verstarben, weil Ärztinnen und Ärzte nicht allen helfen konnten. Die sogenannte Triage, eine Notsituation, in der die verfügbaren Behandlungskapazitäten nicht mehr genügen, um alle akut und lebensnotwendig behandlungsbedürftigen Menschen zu versorgen, gelangte damals ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. 

Die ethische Frage, die sich in diesem Zusammenhang zwangsläufig stellt, ist: Wer soll behandelt werden, wenn nicht alle behandelt werden können? Oder drastischer formuliert: Wen überlasst man im Zweifel dem Tod? Weil die medizinischen Fachgesellschaften in solchen Situationen unter anderem das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht heranziehen, fürchteten Menschen mit Behinderungen wie auch gebrechliche oder anderweitig in ihrer Überlebensprognose benachteiligte Personen, sie könnten im Ernstfall von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen werden. Damit überzeugten sie 2021 auch das BVerfG, das auf die Verfassungsbeschwerden von mehreren Menschen mit Behinderungen entschied, der Gesetzgeber müsse Vorkehrungen treffen, um sie in solchen Situationen vor Diskriminierung zu schützen.

Ärztinnen und Ärzte erhoben Verfassungsbeschwerde

Dies tat der Gesetzgeber schließlich auch und fügte im Dezember 2022 § 5c in das IfSG ein. Diese Norm schreibt recht kleinteilig in sieben mitunter sehr langen Absätzen ein Verfahren für die Zuteilung von Behandlungsplätzen vor, doch vor allem stellte der Gesetzgeber diesen Satz voran: "Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) benachteiligt werden, insbesondere nicht wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung."

Damit schien der Gesetzgeber seinem verfassungsrechtlichen Auftrag nachgekommen zu sein, doch nun kam der Gegenwind aus einer anderen Richtung: Ärzteverbände liefen Sturm, weil sie sich in ihrer medizinischen Behandlungsentscheidung zu eng reguliert fühlten. 14 Ärztinnen und Ärzte erhoben schließlich gegen die Norm Verfassungsbeschwerde, wobei sie vom Marburger Bund - dem größten deutschen Ärzteverband - und der Bundesärztekammer unterstützt wurden. Darin erhoben sie vor allem inhaltliche Einwände gegen das Verfahren und die Zuteilungskriterien, aber auch in Bezug auf die sogenannte Ex-post-Triage, die nach § 5c Abs. 2 S. 4 IfSG explizit untersagt ist.

Entscheidung, wer behandelt wird, ist keine Pandemiebekämpfung

Mit diesen setzte sich das BVerfG nun aber nicht weiter auseinander, sondern gab ihnen aus einem anderen Grund Recht: Die Beschränkung ihrer Berufsfreiheit, die § 5c IfSG bedeute, sei schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil diese Materie gar nicht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterfalle. Die "Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten", die Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ausweist, welche der Bund im Zweifel an sich ziehen kann, sei hier nicht einschlägig. Denn die Pandemie werde - so kann man die Argumentation des Senats herunterbrechen - nicht dadurch bekämpft, dass man bestimme, wem im Extremfall eine Behandlung zukomme und wem nicht. Dies sei vielmehr Gegenstand der ärztlichen Berufsausübung, die der Bund nicht zu regeln befugt sei.

Wenig überrascht von dieser Entscheidung war Hans-Georg Dederer, Staatsrechtslehrer von der Universität Passau, der die Einordnung des BVerfG richtig findet, wie er im Gespräch mit beck-aktuell erklärt: "Ich halte es für überzeugend, dass das Gericht hier eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ablehnt. Aus meiner Sicht trifft die Norm eine, wie das Gericht zutreffend ausführt, Pandemiefolgen-Regelung, aber keine eigentliche Pandemie-Regelung", so Dederer, der diese Auffassung bereits vor der Einführung der Vorschrift ins IfSG vertreten hatte. "Durch die Auswahl von Patienten in einer Triage-Situation ist nichts zur Bekämpfung der Pandemie beigetragen, sie verliert dadurch auch nicht ihre Dynamik." Die Zuteilungsentscheidung diene der Verteilungsgerechtigkeit unter den Patientinnen und Patienten und sei eine Frage ärztlichen Handelns und deshalb primär Gegenstand des ärztlichen Berufsrechts.

Der Marburger Bund begrüßte am Dienstag den Beschluss als "für die gesamte Ärzteschaft höchst bedeutsame Entscheidung". Sie stärke die verfassungsrechtliche Stellung der Ärztinnen und Ärzte und gebe ihnen Rechtssicherheit auch für ihr Handeln in medizinischen Krisenlagen, sagte die erste Vorsitzende Susanne Johna. "Sie zeigt auch, dass das Bundesverfassungsgericht den ärztlichen Beruf als eigenverantwortliche Profession versteht, deren Freiheit und Ethik eine Grenze für staatliche Regulierung bilden."

Wird künftig in Bayern das Leben anders geschützt als in NRW?

Doch der Auftrag zum Diskriminierungsschutz, den das BVerfG 2021 an "den Gesetzgeber" formuliert hat, besteht fort, ist durch die Nichtigkeit von § 5c IfSG vielleicht sogar dringender geworden. Er trifft nun eben die Länder. In der Konsequenz müssten diese also jeweils eigene Verteilungsregelungen für die Triage entwickeln.

16 unterschiedliche Regelungen in 16 Bundesländern - und das bei einer der grundlegendsten ethischen Entscheidungen, die unsere Verfassung kennt, der über Leben und Tod? Das sei vielleicht nicht die beste Variante, aber dennoch möglich, meint Dederer. "Der Landesgesetzgeber ist nicht weniger 'würdig' als der Deutsche Bundestag, solche Regelungen in Bezug auf elementare Schutzgüter wie Menschenwürde und Leben zu treffen" erläutert er. Gleichwohl "wäre sicher sinnvoll, wenn in jedem Bundesland einigermaßen gleichlautende Triage-Regelungen existieren", betont er. Es dürfe wohl auch aus Sicht der Bevölkerung in einer solchen Notsituation keinen Unterschied machen, ob jemand in Nordrhein-Westfalen oder in Bayern in ein Krankenhaus eingeliefert werde. "Der Rahmen ist für die 16 Landesgesetzgeber vorgezeichnet durch die erste Triage-Entscheidung des Gerichts."

Auch Bijan Fateh-Moghadam, deutscher Medizinstrafrechtler und mittlerweile mit einem Lehrauftrag für Grundlagen des Rechts und Life-Sciences-Recht an der Universität Basel tätig, hält es für "nicht zweckmäßig, grundlegende Fragen der Verteilungsgerechtigkeit landesrechtlich uneinheitlich zu regeln." Die Bedenken von Behindertenverbänden und auch des BVerfG seien durch die medizinischen Leitlinien der Fachgesellschaften keineswegs ausgeräumt worden, betont er gegenüber beck-aktuell - "vielmehr bilden diese selbst Anhaltspunkte für eine systematische Diskriminierung bei der Triage."

"Ärztliche Berufs- und Gewissensfreiheit umfasst keine Lizenz zum Töten"

Fateh-Moghadam meint damit die sogenannte Ex-post-Triage. Die Triage-Situation lässt sich nämlich in zwei Szenarien aufteilen: Die sogenannte Ex-ante-Triage meint dabei - stark vereinfacht - eine Situation, in der zwei Menschen gleichsam lebensnotwendig behandelt werden müssen, aber aufgrund fehlender Kapazitäten nur eine von beiden Personen behandelt werden kann. Die Ex-post-Triage meint dagegen, dass bei Eintreffen eines neuen Patienten oder einer Patientin mit besserer Erfolgsaussicht jemand anderem die bereits begonnene Behandlung wieder entzogen wird, um sie der Person zukommen zu lassen, die wahrscheinlicher überleben wird. In der Strafrechtswissenschaft ist dies bis heute heftig umstritten, wird aber mehrheitlich als strafbarer Totschlag bewertet. Aus diesem Grund fügte das Gesundheitsministerium unter damaliger Führung von Karl Lauterbach (SPD) mit § 5c Abs. 2 Satz 4 IfSG auch einen Passus ein, wonach bereits vergebene Behandlungsplätze nicht nachträglich umverteilt werden dürfen. Ärztinnen und Ärzte pochen dagegen auf diese Möglichkeit, um in Krisensituationen flexibel reagieren zu können.

Für Fateh-Moghadam ist das Verbot der Ex-post-Triage keine bloße Formalität. Die Medizinerinnen und Medizinern befänden sich in einem solchen Szenario zwar in einer Pflichtenkollision, eine Patientin weiter zu behandeln und gleichzeitig einen anderen Patienten neu zu versorgen. Doch diese Pflichten seien nicht gleichwertig. "Der Austausch des bereits behandelten Patienten gegen einen neuen Patienten beruht notwendig auf einer höheren Bewertung der Überlebensinteressen des neuen Patienten und damit auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses, welches den Notstand kennzeichnet", so Fateh-Moghadam. Aufgrund der Gleichwertigkeit aller menschlichen Leben, die unmittelbar aus der Menschenwürde folge, sei "eine solche Abwägung von Leben gegen Leben im Rahmen des Notstands unzulässig." 

Mit der Entscheidung aus Karlsruhe sei indes auch nichts Neues über die Ex-post-Triage gesagt, betont Fateh-Moghadam: "Der Erfolg der Beschwerdeführer besagt nichts darüber, ob deren materiell-inhaltliche Argumentation vom BVerfG geteilt wird." Das Verbot der Ex-post-Triage sei nicht erst durch die nun nichtige Regelung im IfSG aufgestellt worden, sondern folge unmittelbar aus dem strafrechtlichen Tötungsverbot. Dieses gelte auch für Ärztinnen und Ärzte, betont der Medizinstrafrechtler. "Die ärztliche Berufs- und Gewissensfreiheit umfasst keine Lizenz zum Töten."

Könnte am Ende das Los entscheiden?

In einem anderen Punkt gibt er ihnen jedoch Recht: Die Verfassungsbeschwerden hatten auch gerügt, das Diskriminierungsverbot in Bezug auf gebrechliche Patientinnen und Patienten sei mit dem laut Gesetz maßgeblichen Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht zu vereinbaren. Auch Fateh-Moghadam sieht darin "eine widersprüchliche Regelung, die Ärzte praktisch nicht umsetzen können. Man könnte auch sagen, das Gesetz ordnete an, dass die Zuteilung anhand der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit erfolgen soll, und verlangte gleichzeitig, genau diese reale Überlebenswahrscheinlichkeit nicht zu berücksichtigen."

Wie sollten also die Länder nun für eine mögliche Pandemie und medizinische Extremsituationen Vorkehrungen treffen, ohne gleichzeitig Menschen mit Behinderungen oder Alte und Gebrechliche zu diskriminieren? Fateh-Moghadam plädiert hier für einen Negativ-Katalog, der diese Personengruppen schützt. "Die Landesgesetzgeber sollten sich darauf beschränken, formale Chancengleichheit aller bedürftigen Patienten beim Zugang zur intensivmedizinischen Versorgung zu gewährleisten." Was das konkret bedeuten könnte? Entweder das Prinzip "frist come, first serve" - wer zuerst behandelt wird, bleibt, bis er oder sie außer Lebensgefahr ist - oder das Los könnte am Ende entscheiden. Die Diskussion ist jedenfalls mit der Entscheidung aus Karlsruhe nicht am Ende angekommen.

BVerfG, Beschluss vom 23.09.2025 - 1 BvR 2284/23

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 4. November 2025 (ergänzt durch Material der dpa).

Mehr zum Thema