Bürokratieabbau: Weniger ist weniger
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Seit Jahrzehnten überbieten sich die jeweils amtierenden Bundesregierungen mit dem Versprechen, Bürokratie abzubauen. Was aber meinen Politikerinnen und Politiker eigentlich konkret, wenn sie davon sprechen? Vielleicht wissen sie es selbst nicht so genau.

Sucht man im Koalitionsvertrag das Wort "Bürokratie", findet man es gleich im Inhaltsverzeichnis und anschließend noch weitere 60-mal auf den 146 Seiten "Verantwortung für Deutschland". Nimmt man noch Adjektive wie "bürokratisch" hinzu, sind es insgesamt exakt 100 Treffer. Man wolle ein "Sofortprogramm für den Bürokratierückbau" starten, Gesetze "bürokratiearm und vollzugsfreundlich" gestalten und Vorgaben aus Brüssel "unbürokratisch" umsetzen, heißt es. Das Versprechen, den Vorschriften-, Belege- und Nachweisdschungel zu reduzieren, begegnet den Leserinnen und Lesern in verschiedensten sprachlichen Ausformungen.

Dass sich die neue Koalition dieses Vorhaben auf die Fahne geschrieben hat, ist ebenso wenig überraschend wie neu. Auch die Ampel wollte Deutschland modernisieren und hierzu bürokratische Hürden abbauen. So versprach der ehemalige FDP-Justizminister Marco Buschmann 2024 eine Entbürokratisierungsoffensive. Und schon 1983 konstatierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in einer Rede vor dem Deutschen Städtetag in Frankfurt: "Das Übermaß an Bürokratie muss beseitigt werden." Dass die Debatte stets wiederkehrt und bis heute nicht beendet ist, zeigt auch die Nummerierung der diversen bislang verabschiedeten Bürokratieabbaugesetze (das vierte passierte erst im vergangenen Jahr den Bundestag).

"Bürokratie ist ein Containerbegriff"

Doch warum scheint sich die Politik so schwerzutun? Ist es wirklich so kompliziert, ein paar überflüssige Vorschriften zu streichen? Die Antwort gibt die Erfahrung: Ja. Etwas differenzierter kann es Pascale Cancik erklären, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Geschichte des europäischen öffentlichen Rechts und Verwaltungswissenschaften an der Universität Osnabrück. Sie hat sich wissenschaftlich mit dem Bürokratieabbau auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss: "Bürokratie ist ein Containerbegriff, der sich mit allem füllen lässt, was die Betroffenen gerade so bewegt." Anders gesagt: Es ist ein vager, amorpher Gegenstand der öffentlichen Debatte, der immer dann ausgepackt wird, wenn es gerade politisch passt.

Deshalb warnt Cancik davor, das Wort Bürokratie überhaupt zu benutzen, da es die eigentlichen Probleme verschleiere und einer zielführenden Debatte damit im Weg stehe. Diese, so Cancik, sollte sich vielmehr um Fragen drehen wie: Welche Aufgaben bzw. Regelungen brauchen und wollen wir? Sie unterteilt verschiedene Bereiche, die meist mit den Bürokratieabbau-Forderungen gemeint sind: Personal, Interaktion mit Bürgerinnen und Bürgern, Organisation und Effizienz sowie Recht und Regelung. Weil diese Bereiche so unterschiedlich sind, sollte man sie auch nicht in einen Topf werfen, meint Cancik.

Dabei bestreitet auch Cancik nicht, dass es legitime Kritik an der Regulierung geben kann. Doch sie plädiert gegen eine "Pathologisierung des Rechts", "als hätten nicht diese Regelungen alle einmal einen guten Grund gehabt". 

Jede Vorschrift schützt jemanden

In der Tat könnte die Problematik beim Bürokratieabbau genau darin liegen, dass unter jedem Stein, den man umdreht, ein Bauer oder eine Teilzeitbeschäftigte hervorkriecht und ruft: "Diese Regelung ist wichtig!" Denn irgendwoher kam sie ja einst. Damit bleibt aber die Frage, wie man mit diesem Dilemma umgeht: Alle wollen weniger Bürokratie, aber nicht dort, wo die Regelungen eigene Interessen schützen. Und das müssen keine Partikularinteressen sein. Beim nächsten Lebensmittelskandal erinnern sich vermutlich wenige Bürgerinnen und Bürger noch an ihre einstige Sympathie für hygienevorschriftsgeplagte Metzgereien. Das begründet Cancik mit dem Präventionsparadox: Eine effektiv schützende Regelung wird mit der Zeit nur noch als Belastung wahrgenommen, weil das Bewusstsein für die Gefahr verschwindet. Oder wie der Soziologe Armin Nassehi sagt: "Man sieht die Schäden nicht, die ausgeblieben sind".

Was vielfach unter dem Schlagwort der Entbürokratisierung gefordert wird, macht eine knallharte Priorisierung notwendig. Rückbau von Vorschriften gibt es in einem liberalen Rechtsstaat kaum ohne Verluste. Ein Beispiel abseits der Lebensmittelkontrollen: Wo Arbeitssicherheit reduziert wird, steigt das Risiko für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, im schlimmsten Fall für Leib und Leben. Und wenn Genehmigungsvorschriften für Windräder gelockert werden, sind Anwohnerinnen und Anwohner schnell auf den Barrikaden. Manche Schäden treten vielleicht auch gar nicht in den Grenzen der Bundesrepublik ein, außer im kollektiven und individuellen Gewissen der Deutschen: Wenn für Unternehmen etwa Lieferkettenvorschriften gelockert werden, macht das ihre Produktion einfacher und ihre Wertschöpfung mutmaßlich effektiver, aber anderswo auf der Welt brennen dann doch wieder Produktionshallen mit südostasiatischen Arbeitskräften.

Manches ist einfach kompliziert

Nun könnte man einwenden, dass man Regeln ja nicht abschaffen muss, sondern schlicht vereinfachen könnte. In der Tat, Vereinfachung ist ein wiederkehrendes Mantra der Entbürokratisierungsphilosophie. Einige erinnern sich noch an des heutigen Kanzlers erstes politisches Leben, in dem er seinerzeit eine "Steuererklärung auf dem Bierdeckel" propagierte. Doch das Steuersystem muss bis zu einem gewissen Grad ausdifferenziert sein, um möglichst große Gerechtigkeit herzustellen. Komplizierte Bereiche erfordern komplizierte Regeln. "Wie könnte der Bau und die Genehmigung eines Kernkraftwerks nicht kompliziert sein?", fragt Cancik plakativ.

Und schließlich weist die Verwaltungsrechtlerin auch darauf hin, dass z.B. ein Abbau von Prüfpflichten der Behörden nicht unbedingt die gewünschte Entlastung bringen muss. Denn um über eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung zu entscheiden, braucht eine Behörde nun einmal Informationen. Im Endeffekt könnte die Änderung dann nur darin bestehen, wer diese Informationen beschafft. So könnte eine Behörde vielleicht Personal einsparen, wenn sie bestimmte Dinge nicht selbst prüft. Das müssten dann aber die Unternehmen übernehmen, die hierfür wiederum zusätzlichen bürokratischen Aufwand hätten.

Ehrlichkeit gehört beim Bürokratieabbau dazu

Heißt das nun, das ganze Vorhaben, den Staat und seine Abläufe schlanker und effizienter zu machen, ist von vorneherein aussichtslos? Mitnichten, aber man muss sich die Kosten-Nutzen-Rechnung bewusst machen und sollte nicht so tun, als sei das Ganze ein "No-brainer".

Bestimmte Fragen sollte man sich stellen, findet Cancik: Zunächst nach dem Anlass der kritisierten Regelung, dann nach deren Zielen bzw. Nutzen. Im Anschluss sollte man sich die Kosten der Vorschrift vor Augen führen; und schließlich diejenigen Kosten, die es nach sich zöge, wenn es die Regelung nicht gäbe. Der Rest sei dann eine politische Entscheidung.

Und schließlich gibt es viele Vereinfachungen, die gar nicht unbedingt mit Deregulierung einhergehen müssen. Mehr Digitalisierung, bessere personelle Ausstattung, eine kritische Aufgabenprüfung und auf Vollzugsfähigkeit ausgelegte Gesetze könnten schon sehr helfen. Es gibt also viel zu tun an der Entbürokratisierungsfront und einiges davon findet sich auch im Koalitionsvertrag. Doch am Ende gehört nicht nur viel Eifer und Tatkraft dazu, sondern auch eine Portion Ehrlichkeit. 

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 22. Mai 2025.

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