Der "Kampf um die Mitte" ist in der Politik schon lange ein geflügeltes Wort, insbesondere in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung. Dort ist er auch ein berechtigtes Anliegen, denn Abgeordnete sollen schließlich das Volk vertreten. Anders sieht es für die Justiz aus. Sie soll gerade nicht gesellschaftliche Mehrheiten repräsentieren oder gar deren Meinungen folgen, sondern ausschließlich Recht und Gesetz. Deshalb ist Justitia blind. Und deshalb werden Richterinnen und Richter in Deutschland auch nicht vom Volk gewählt, sondern von Richterwahlausschüssen ausgesucht oder schlicht nach beamtenrechtlichen Kriterien eingestellt.
Noch nie dürfte daher eine (Beinahe-)Richterwahl so viel politische Erde verbrannt haben wie die von Frauke Brosius-Gersdorf. Die von der SPD für einen Karlsruher Posten vorgeschlagene Potsdamer Verfassungsrechtlerin hatte sich in der Vergangenheit deutlich mehr exponiert als nahezu alle ihre Vorgängerinnen und Vorgänger. Sie zeigte sich offen für eine Verpflichtung der Bundesregierung zur Einführung einer Impfpflicht, sprach sich als Mitglied einer von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der Frühphase aus und kritisierte die Rechtsprechung des BVerfG zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen. Alles polarisierende Themen, wenngleich Brosius-Gersdorf beileibe keine Einzelmeinungen dazu vertrat. Dennoch wurde schnell Widerstand in der Unionsfraktion laut und so kam es – nachdem zwischenzeitlich auch noch Plagiatsvorwürfe laut geworden waren – am Ende zum Eklat im Bundestag, als die Union plötzlich erklärte, Brosius-Gersdorf nicht wählen zu wollen.
Brosius-Gersdorf polarisiert – "linksradikal" ist sie nicht
In der Folge entbrannte eine öffentliche Schlacht um die Verantwortung für den Skandal und darum, wie polarisierend die Personalie Brosius-Gersdorf eigentlich wirklich sei. Sie selbst ließ einige Tage nichts von sich hören, meldete sich dann aber mit einem schriftlichen Statement und einem Auftritt in der ZDF-Talksendung von Markus Lanz. Dort erklärte sie ihre Ansichten und bekräftigte, es handele sich um "gemäßigte Positionen aus der Mitte der Gesellschaft". Sie reagierte damit auf die Vorwürfe aus Politik und Medien, ihre Positionen seien zu extrem, mitunter war sie gar als "linksradikal" betitelt worden. Gehaltvollere Kommentare wiesen auf Widersprüche zwischen ihren Positionen und der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG hin.
Während der abseitige Vorwurf Linksradikalismus nicht nur von Brosius-Gersdorf, sondern auch vom des Radikalismus eher unverdächtigen Markus Lanz für eine breite Öffentlichkeit überzeugend abgeräumt wurde, stellt sich aber eine andere Frage: Ist es – bei allem Verständnis für den Verteidigungsreflex einer öffentlich massiv attackierten Juristin – überhaupt eine legitime Anforderung an Richterinnen und Richter des BVerfG, in ihren Positionen möglichst "mittig" zu sein oder sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts zu bewegen? Braucht es nicht auch kritische Geister an Deutschlands höchstem Gericht?
Das BVerfG lebt von neuen Einflüssen
Die Geschichte der Rechtsprechung des BVerfG zeigt, dass das Gericht seine Auffassungen nicht oft explizit ändert. Und doch hat es – gerade in Fragen, die von sich wandelnden Gesellschaftsbildern abhängen – eine Entwicklung gemacht. So wäre zum Beispiel das ebenso viel gelobte wie kritisierte Urteil des Gerichts aus dem Jahr 2020 zur Suizidassistenz 30 oder 40 Jahre zuvor kaum denkbar gewesen. Auch der Rechtsprofessor und Richter am EuGH Thomas von Danwitz sieht "die Rechtsprechung im Grundrechtsbereich gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel überaus aufnahmefähig".
Auch hat es sehr wohl schon Querköpfe am BVerfG gegeben, die ihm keineswegs geschadet haben. Das Sondervotum Winfried Hassemers 2008 zur Entscheidung, mit der das Gericht die Strafbarkeit des Geschwisterinzests rechtfertigte, wird bis heute in der Wissenschaft mit einer gewissen Bewunderung und Ehrfurcht referiert. Hassemer wandte sich damals – allein – entschieden gegen die Senatsmehrheit und bestand darauf, dass das Strafrecht nicht bloß zur Verteidigung von Sitten herhalten dürfe, sondern konkrete Rechtsgüter schützen müsse, um seine Gewalt zu rechtfertigen.
Überhaupt, Sondervoten: Deren Existenz – 1970 gesetzlich ermöglicht – setzt denknotwendig voraus, dass es divergierende Auffassungen am Gericht gibt, die sich nicht in einem Kompromiss zusammenführen lassen. Ob Sondervoten dem Ansehen des Gerichts schaden oder nützen, wird bis heute munter diskutiert. Der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza rechtfertigte sie 1982 wie folgt: "Den großen Vorzug dieser Einrichtung sehe ich darin, daß sie das, was jedermann ohnehin weiß oder vermutet, transparent und öffentlich macht: Nicht alles Verfassungsrecht ist konsensfähig. Der Maßstab der Verfassung ist so politisch oder so vage, daß sich auch aus größter Distanz und mit bestem Sachverstand nur eine Mehrheitsmeinung, nicht aber Einmütigkeit finden läßt". Einigkeit am BVerfG, sagt uns das, ist eine Illusion, denn Recht ist keine mathematische Formel – es bedarf der Auslegung, die wiederum je nach Menschen- und Gesellschaftsbild der Person variieren kann. Und so macht umgekehrt auch eine Person noch keine Mehrheitsmeinung und eine Brosius-Gersdorf – so sie das wollte – noch keine Änderung der Abtreibungsrechtsprechung. Auch darauf verwies die Professorin bei Markus Lanz zu Recht.
"Bereitschaft zum Dialog" wichtiger als Mehrheits-Meinung
Nun muss Mittigkeit nicht unbedingt Einigkeit in allen Fragen bedeuten, sondern eher die Zugehörigkeit zu einem gewissen Meinungskorridor, der breiter oder enger sein kann. Allerdings haben sich, wie schon erwähnt, die Meinungskorridore am BVerfG im Laufe der Zeit verändert, was wiederum daran liegt, dass andere Menschen mit anderen Vorstellungen und Prägungen in die Karlsruher Besprechungsräumlichkeiten eingezogen sind. "Dass Anwärter für das BVerfG nicht in allen Punkten mit der Rechtsprechung des Gerichts übereinstimmen, ist nicht schädlich, sondern sogar wünschenswert", meint deshalb der Staatsrechtler Christoph Degenhart im Gespräch mit beck-aktuell. Würde man nur Menschen innerhalb eines etablierten Meinungsspektrums ins Gericht lassen, so Degenhart, drohte eine "Versteinerung" der Rechtsprechung. Kritische Positionen seien also legitim, sie müssten sich aber innerhalb eines Grundkonsenses bewegen, den das Gericht benötige, um eine gewisse Kontinuität und damit auch Vertrauen in seine Rechtsprechung zu gewährleisten. "Ganz maßgeblich" aber, so Degenhart, sei vor allem eines: "Die Bereitschaft zum Dialog". "Äußerungen mit Absolutheitsanspruch oder aus einem Anspruch moralischer Überlegenheit heraus disqualifizieren Kandidaten für das Gericht."
Man mag einwenden, dass neue Richterinnen und Richter durchaus neue Impulse ins Gericht einbringen können, jedoch nur, solange sich diese in der Wissenschaft hinreichend etabliert haben. Das ist sicherlich ein berechtigter Einwand, der sich indes gegen Frauke Brosius-Gersdorf kaum vorbringen lässt. Sämtliche Ansichten, für die sie gegenwärtig kritisiert wird, haben gewichtige Stimmen in der Wissenschaft für sich. Damit stellt sich also die Frage: Wo liegt die Schwelle zur "Mitte", ab welcher eine Kandidatin für das BVerfG qualifiziert ist? Darf sie nur wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen vertreten, die viel zitierte "h.M."? Oder braucht es einen gewissen Prozentsatz an Kolleginnen und Kollegen, die ihr zustimmen?
Gewisse inhaltliche Grundbedingungen, so Degenhart, seien nicht verhandelbar: "Wer das parlamentarische System oder das Grundgesetz selbst ablehnt, kann natürlich nicht Verfassungsrichter werden", meint der emeritierte Staatsrechtslehrer. Doch im Übrigen sieht er viel Spielraum für Querköpfe und abweichende Meinungen: "Die Wissenschaft lebt vom Dialog zwischen herrschender Meinung und Mindermeinung" betont Degenhart, "und die Mindermeinung von heute kann die herrschende Meinung von morgen sein." Deshalb könne und solle man auch nicht verlangen, dass neue Richterinnen und Richter für das BVerfG in allen Themen den wissenschaftlichen Mainstream vertreten. Auch hier komme es entscheidend auf die Dialogbereitschaft an.