Weimarer Masken-Richter vor dem BGH: Ein Mann mit einer Mission
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Ein Weimarer Familienrichter, der nicht mit den Corona-Maßnahmen einverstanden war, verbot diese an zwei Schulen, weil er vor allem durch die Maskenpflicht das Kindeswohl gefährdet sah. Dafür wurde er wegen Rechtsbeugung verurteilt. Am Mittwoch verhandelte der BGH.

Was ist die Aufgabe eines Richters? Er soll nach bestem Wissen und Gewissen Recht sprechen und sich dabei an dieses halten. Was so einfach und präzise klingt, kann in der Realität manchmal verschwimmen. Was ist, wenn ein Richter sein Gewissen und seine Überzeugung zum Ausgangspunkt seiner Rechtsauslegung macht? Ein Stück weit ist eben das schließlich die Berufsbeschreibung, da Rechtsprechung kein mathematischer Prozess mit wissenschaftlicher Objektivität ist, der nur einen Ausgang kennt. Zu welchem Urteil man in einem bestimmten Fall kommt, wird oft vom persönlichen Eindruck, vom Rechtsgefühl und im Zweifel auch von einer bestimmten Auslegung des Rechts bestimmt. Wenn diese nicht die Mehrheitsmeinung ist, wird die Entscheidung in der nächsten Instanz vermutlich aufgehoben, mehr aber auch nicht.

Ein Richter vom AG Weimar soll diesen Rahmen, den ihm das Gesetz gewährt, aber überstrapaziert haben. Er wurde deshalb vom LG Erfurt zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt – dem Höchstmaß, das noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann und auch wurde. Der Vorwurf lautet:  Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB. Am Mittwoch verhandelte der BGH über die Revisionen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft. Ein solcher Prozess gegen einen Richter ist höchst ungewöhnlich, besonders brisant wurde er aber durch die Sache, in der er entschieden hatte.

"Herzensanliegen, Kinder vor Gefahren zu schützen"

Der Angeklagte Christian D. war nach den Feststellungen des LG bereits im Jahr 2020 nicht mit den Maßnahmen einverstanden, welche die Regierung damals ergriff, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Er besuchte Versammlungen von anderen Kritikern und Kritikerinnen und schloss sich Anfang 2021 dem "Netzwerk kritische Richter und Staatsanwälte" an, das Gleichgesinnte aus der Justiz versammelte. 

Wieder und wieder, so sagte es D. in seinem letzten Wort in der Hauptverhandlung in Karlsruhe, seien ihm Berichte von Kindern zugetragen worden, die unter den Maßnahmen gelitten hätten, psychisch wie physisch. Sein ganzes Berufsleben lang, so der 61-Jährige, der seit 1996 Amtsrichter in Weimar ist, sei es ihm ein Herzensanliegen gewesen, Kinder vor Gefahren zu schützen. Und so, gibt er an, habe er es als seine Pflicht gesehen, gegen die Maßnahmen einzuschreiten.

Was danach kommt, ist, so jedenfalls die Sicht der Anklage, D.s Abkehr von Recht und Gesetz. Seine Anhängerinnen und Anhänger, die sich am Mittwoch in so großer Zahl in Karlsruhe einfanden, dass der rund 80 Personen fassende Sitzungssaal lange nicht alle aufnehmen konnte, sehen das freilich anders. 

Eltern proaktiv zu sich gelotst

D. soll sich, dies räumt er auch im Wesentlichen ein, mit Eltern, deren Kinder auf zwei Weimarer Schulen gingen, in Verbindung gesetzt haben, um ihre Klagen zu ihm zu lotsen. Dazu teilte er ihnen mit, welche Eingaben voraussichtlich den Weg zu ihm finden würden. Dies richtete sich gemäß dem Geschäftsverteilungsplan des AG Weimar nach den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der potenziellen Antragstellerinnen und -steller. Als sich jemand mit entsprechendem Namen fand, assistierte er auch bei der Formulierung einer Eingabe und erkundigte sich bereits nach möglichen Sachverständigen mit kritischer Ansicht zu den Maßnahmen an den Schulen, auf deren Expertise er sich bei seiner Entscheidung stützen könnte.

Als eine entsprechende "Anregung", wie es im Familienrecht heißt, einging, forderte er die Schulen zunächst zur Stellungnahme auf und erließ im April 2021 schließlich einen Beschluss, mit dem er den beiden Weimarer Schulen sämtliche Corona-Maßnahmen untersagte: Maskenpflicht, Tests, Abstandsgebote, all das fegte D. mit seiner Entscheidung hinfort – vermeintlich. Denn auf die Beschwerde des Thüringer Bildungsministeriums hob das OLG Jena den Beschluss auf, auch der BGH bestätigte diese Aufhebung. D. als Amtsrichter sei gar nicht für die Sache zuständig, es handele sich nicht einmal um den korrekten Rechtsweg. Denn über ordnungsbehördliche Verordnung können nur die Verwaltungsgerichte, nicht aber Familiengerichte entscheiden. Das haben inzwischen sowohl der XII. Zivilsenat des BGH als auch das BVerwG klargestellt. Anschließend nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts der Rechtsbeugung auf, die zum Urteil des LG Erfurt führten.

Viel Solidarität aus der Querdenker-Szene

Als der 2. Strafsenat des BGH am Mittwoch über eben dieses verhandelte (2 StR 54/24), fanden sich so zahlreiche Unterstützerinnen und Unterstützer vor dem Nebengebäude des BGH in Karlsruhe ein, dass viele von ihnen gar nicht mehr hineinkamen. Viele waren aus der Region, aber einige auch von weit her angereist, um ihre Solidarität mit D. zu bekunden. In der Warteschlange wurde emsig diskutiert über eine vermeintlich fehlende Aufarbeitung der Corona-Zeit, über einen verkümmerten Rechtsstaat und die – so die verbreitete Ansicht – korrupte Politik. 

Die Leidenschaft von D.s Anhängerschaft sorgte zunächst für mehr als eine Stunde Verspätung beim Verhandlungsbeginn und dann für einen ernsten Ordnungsruf der Vorsitzenden Richterin Eva Menges in der Verhandlung, da einige Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Maßnahmen immer wieder durch höhnisches Lachen, Klatschen oder Zwischenrufe auffielen. 

D. selbst folgte der Verhandlung in weiten Teilen ruhig und interessiert, dabei geht es für ihn um viel: Nicht nur seine Freiheit steht auf dem Spiel – die Staatsanwaltschaft fordert eine höhere Haftstrafe, die dann nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könnte – sondern auch sein Beruf und seine Pension. Auch diese würde er bei einer Verurteilung wohl verlieren, derzeit ist D. lediglich vorläufig suspendiert.

Die Anklage wirft D. vor, sich gezielt das Verfahren beschafft, trotz offensichtlicher Befangenheit darüber entscheiden und sich dadurch bewusst von Recht und Gesetz entfernt zu haben. Ein Richter, der sich seinen Fall bastelt, kann nicht unvoreingenommen Recht sprechen, so der Gedanke. Somit habe er auch in Kauf genommen, das Recht zu beugen. 

Ermächtigungsgrundlage Kindeswohl?

Vertreten wird D., wie schon im Verfahren vor dem Landgericht, von seinem Pflichtverteidiger Peter Tuppat und seinem ungleich berühmteren Wahlverteidiger Gerhard Strate – einem der wohl bekanntesten Strafverteidiger Deutschlands. Dieser führte auch in der Verhandlung maßgeblich die Ansicht der Verteidigung aus.

Er hielt der Auffassung der Staatsanwaltschaft entgegen, § 1666 BGB, wonach das Familiengericht von Amts wegen Maßnahmen zu treffen hat, um eine Gefährdung eines Kindes zu verhindern, wo die Eltern dies nicht können, sei eine bedeutende Säule des staatlichen Wächteramtes für das Kindeswohl. Es sei daher nicht so abwegig gewesen, anzunehmen, dass es möglich sei, als Familienrichter auch gegen Corona-Auflagen an Schulen einzuschreiten. Für diese Annahme habe Richter D. auch eine hinreichende Tatsachengrundlage gehabt: "Die Masken waren eine Tortur", so Strate, der sich immer wieder vergeblich des wohl ungewollten Beifalls aus dem Publikum erwehrte.

Ob Maßnahmen nach § 1666 BGB gegen Behörden gerichtet werden könnten, sei ebenfalls rechtlich nicht geklärt, so Strate, der dafür die einschlägigen (Leer-)Stellen diverser juristischer Kommentare heranzog. Zudem bemühte er einen Vergleich mit der Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, Durchsuchungen bei Behörden durchzuführen, die der BGH erst im Zuge der Cum-Ex-Ermittlungen bei Finanzbehörden anerkannt habe. D. habe also durchaus davon ausgehen können, dass eine Anordnung gegen den Staat möglich sei.

Darf ein Familienrichter überall einschreiten?

Überhaupt ging es in der Verhandlung recht wenig um den zentralen Vorwurf, den das Landgericht D. bei seiner Urteilsverkündung gemacht hatte: dass er – abseits der Frage, ob er korrekterweise seine Zuständigkeit angenommen und in der Sache entschieden habe – durch sein Zusammenwirken mit den Eltern der betroffenen Schülerinnen und Schüler und die Auswahl der Sachverständigen Verfahrensverstöße begangen habe, die eine offenkundige Beugung des Rechts sein. 

Der Senat schien vielmehr interessiert an der rechtlichen Grundlage, auf der D. meinte, tätig werden zu dürfen. Hintergrund dürfte sein, dass das Landgericht – das bestätigte auch der Vertreter der Bundesanwaltschaft in der Verhandlung – in seiner Beweiswürdigung Fehler gemacht hat, u.a., weil es sich nicht hinreichend mit dem Vorsatz des Angeklagten in Bezug auf seine Unzuständigkeit auseinandergesetzt hat.

So hinterfragten die Senatsmitglieder auch engagiert die von Strate vorgetragene Sichtweise. Ob ein Familienrichter denn auch einen Haftbefehl erlassen dürfe, wenn ein Vater sein Kind schlage, und der Haftbefehl daher dem Kindeswohl diene, fragte ein Mitglied. Ein anderer Richter zog eine Parallele zu einem vorbildlichen Vater, dessen Ausweisung drohe. Dürfe ein Familienrichter diese stoppen, wenn es dem Kindeswohl diene? Verteidiger Strate wirkte auf diese – bewusst abstrus gewählten – Beispiele etwas ratlos. Familienrechtler sei er schließlich nicht. 

Doch die Beispiele machten die zentrale Frage deutlich: Wie weit darf ein Amtsrichter in seiner Eigenschaft als Wächter des Kindeswohls gehen, wenn er dies gefährdet sieht? Darf er sich auch über seine Kompetenz und die staatliche Gewaltenteilung hinwegsetzen? Der Senat schien davon überwiegend nicht recht überzeugt. Eine "Superermächtigungsnorm", wie es ein Senatsmitglied nannte, sieht man in § 1666 BGB jedenfalls nicht.

Verteidiger sieht Grauzone

Strate betonte nach den Fragen des Senats, er wolle sich nicht mit seinem Mandanten gemein machen. Er ruderte dabei gar hinter seine eigenen Ausführungen zurück und räumte ein, dass er "vielleicht zu entschieden" formuliert habe. Dass sein Mandant objektiv im Unrecht war, will der renommierte Strafrechtler nicht bestreiten, wie er auch nach der Verhandlung gegenüber beck-akuell betonte. Objektiv sei es rechtswidrig gewesen, was sein Mandant getan habe, so Strate. Er stelle aber die subjektive Tatseite infrage. Es gebe "Grenzbereiche", in denen man seinem Mandanten nicht den Vorwurf machen könne, sich bewusst von Recht und Gesetz entfernt zu haben. 

Aus diesem Grund beantragte die Verteidigung am Schluss der Verhandlung, das Urteil aufzuheben und den Angeklagten freizusprechen. Der Vertreter der Generalbundesanwaltschaft forderte, das Urteil aufzuheben und zur neuerlichen Entscheidung an das LG zurückzuverweisen. Die Strafverfolger sehen u. a. in der Würdigung eines vermeintlichen Geständnisses des Angeklagten einen Fehler in der Strafzumessung.

Eine Entscheidung verkündete der Senat, der sich wohl noch einmal eingehend beraten wird, am Mittwoch nicht mehr. Hierfür wurde ein Verkündungstermin für den 20. November anberaumt. Sollte der BGH zurückverweisen, bleibt die Zukunft des Weimarer Amtsrichters vorerst weiter offen. Dieser erklärte in seinem letzten Wort: "Ich habe das Beste gewollt" – und schon nach, dass es rückblickend auch das Beste gewesen sei.

Redaktion beck-aktuell, Maximilian Amos, 28. August 2024.