BGH hofft auf Kompromiss bei Digitalisierung
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Der BGH hat im vergangenen Jahr etwas weniger Zivilfälle, aber deutlich mehr Strafverfahren zu bewältigen gehabt. Die Richter und Richterinnen freuen sich auf den Neubau ihres Ostgebäudes. Zu aktuellen Justizreformen, deren Kompromissfindung der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat für heute abermals abgeblasen hat, mochte BGH-Präsidentin Bettina Limperg bei ihrem Presseempfang am Dienstagabend dagegen wenig sagen.

Eigentlich wäre es das Thema des Abends für den jährlichen Medienabend am BGH gewesen: Am Tag zuvor hatte der Vermittlungsausschuss von Länderkammer und Parlament zum zweiten Mal den Versuch platzen lassen, Kompromisse zu zwei vom Bundestag beschlossenen Justizreformen zu finden: das Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz und das "Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten". Gegen beides hatten die Bundesländer massive Einwände vorgebracht – nicht zuletzt auf Druck von großen Teilen der Justiz.

Doch Gerichtspräsidentin Bettina Limperg hielt sich – vor allem im zitierbaren Teil ihrer Begrüßungsansprache – deutlich zurück. "Wir stellen uns als Justizpraktiker den Chancen der Digitalisierung nicht entgegen", versicherte sie: "Niemand muss sich, glaube ich, für uns schämen." Der Ausbau von IT-Projekten erfordere allerdings erhebliche Ressourcen: "Mit großer Sorge sehe ich die Überlastung unserer IT-Mitarbeiter." Zumal von der Politik gerade erst ein "großes Sparen" angekündigt worden sei.

"Öffentliche Verhandlung kann Mehrwert bieten"

Deutlicher wurden BGH-Mitglieder in der anschließenden Fragerunde, aus der keine Namen genannt werden sollten. "Der Mehrwert einer öffentlichen Verhandlung in Präsenz ist oft größer", hieß es aus dem Gericht. Dabei würden Emotionen erzeugt mit einer ganz anderen Dimension als bei virtuellen Terminen, wenn ein Bürger tatsächlich eine Treppe zum Gerichtsgebäude hochgeht. Man dürfe nicht glauben, dass all diese positiven Effekte aus dem realen Leben auch bei virtuellen Verhandlungen zu erreichen seien. Die Kompromisslinie: "Es muss beides in sinnvollem Maße geben." Unzufrieden zeigten sich in Bezug auf die beiden Justizreformen die obersten Zivil- und Strafrichter allerdings mit dem Verhalten der Politik. "Wir sind gefragt, aber mit unseren Bedenken nicht gehört worden." Der Widerstand gegen diese Gesetze sei im Wesentlichen von den Ländern organisiert worden. Das sei verständlich – "zumal wenn man die waidwunden Strafkammern im Lande sieht und das dann noch on top kommt".

Dezidierter äußerte sich Gerichtschefin Limperg zu der von der Ampelkoalition geplanten Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens, das den BGH entlasten soll. Das Gesetzgebungsverfahren hänge derzeit in den Parlamentsausschüssen, kritisierte sie, was wenig erfreulich sei. Ohnehin lasse die Politik es an der nötigen Stringenz bei Kollektivklagen fehlen, beklagte sie mit Blick auf die neu eingeführte Abhilfeklage sowie die geplante abermalige Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes. "Diese Klagearten müssten zusammengeführt und in ein kohärentes Verhältnis zueinander gebracht werden."

"Immer mehr Staatsschutzsachen"

Im vergangenen Jahr erreichten 5.897 neue Zivilverfahren die Karlsruher Höchstrichter – knapp 11% weniger als 2022. Limperg sieht darin freilich eine Normalisierung, nämlich einen Rückgang auf die Zeit vor der Anflut der Dieselklagen. Bei den Strafsenaten gab es hingegen einen Zuwachs um rund 5% auf 3.703 Fälle. Erneut fielen die Staatsschutzsachen –  auch bei den Ermittlungsrichtern, die am Rande ihrer Leistungsfähigkeit angelangt seien – erheblich ins Gewicht. Als Erklärungen zu hören war die Zunahme aufwendiger Prozesse nach dem Völkerstrafgesetzbuch, der Rückstau von Fällen aus der internationalen Abhöraktion von Krypto-Handys ("Encrochat"), deren Verwertbarbeit nicht unumstritten ist, sowie Drogendelikte.

"Wir verstehen uns als europäisches Gericht", betonte Limperg überdies und freute sich über eine Aussage aus dem EuGH, man stehe in einem Dialog auf gleicher Ebene. Sehr angetan zeigte sich die Gerichtspräsidentin vom Baufortschritt bei der Erweiterung durch ein neues Ostgebäude. Dieses solle 2026 bezogen werden können. Dort befindet sich dann auch eine Kantine, die "alle möglichen Veranstaltungsformate bis hin zum Livecooking" bieten solle.

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 20. März 2024.