Die alte Grundsteuer krankte daran, dass ihre Bemessungsgrundlage auf veralteten und nicht mehr realitätsgerechten Einheitswerten beruhte. Wegen Verstoßes gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG kippte das BVerfG darum 2018 die damalige Regelung – freilich nicht, ohne dem Gesetzgeber eine großzügige Übergangsfrist für eine Neuregelung zu geben. Eben diese wurde schließlich Ende 2019 nach zähem Ringen eingeführt.
Der Kompromiss sah über eine Neufassung von Art. 105 Abs. 2 GG hinaus auch eine Freigabeklausel für eigene Grundsteuergesetze der Länder vor, die vier Bundesländer genutzt haben. Die übrigen Bundesländer wenden das sogenannte Bundesmodell an. Und an eben diesem entzündet sich nun wieder Kritik.
"Einspruchs-Tsunami" gegen neue Grundlagenbescheide
Die Grundsteuer wird in einem zweistufigen Verfahren erhoben. Im ersten Schritt ermitteln die Finanzämter auf den Bewertungsstichtag 1. Januar 2022 für jedes der rund 36 Millionen Grundstücke in Deutschland Grundsteuerwerte, die dann in einem Steuerbescheid gesondert festgestellt werden. Im zweiten Schritt wenden die Gemeinden ab 1. Januar 2025 auf den Grundsteuerwert aus dem Grundlagenbescheid einen selbst festgelegten Hebesatz an, wodurch in einem Folgebescheid die finale Grundsteuer zustande kommt. Bis dahin gelten für die Gemeinden noch die alten Grundsteuerregelungen und Werte. Das jährliche Gesamtaufkommen beläuft sich immerhin auf ca. 14 Milliarden Euro und stellt eine wesentliche kommunale Einnahmenquelle dar.
Mittlerweile haben die Finanzämter zahlreiche Bescheide zu den Grundsteuerwerten erlassen, gegen die schon über drei Millionen Einsprüche eingegangen sind – manche sprechen gar von einem "Einspruchs-Tsunami". In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sind unlängst zwei dieser Fälle bis zum BFH gelangt. Und wie schon die Vorinstanz hat auch der BFH dabei ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bescheide geäußert.
Vereinfachende Pauschalierung gegen Einzelfallgerechtigkeit
Den Grundeigentümerinnen und -eigentümern in den beiden Verfahren gehörten Wohnimmobilien in Rheinland-Pfalz, wo der Grundsteuerwert nach dem Bundesmodell ermittelt wird. Die einschlägigen §§ 218 ff. BewG differenzieren für die anzuwendenden Bewertungsmethoden u.a. nach unbebauten und bebauten Grundstücken sowie der Art der Bebauung. In den Streitfällen waren die Grundstückswerte aus verschiedenen Komponenten zu ermitteln, die sich für den Grund und Boden aus den Bodenrichtwerten und für die darauf stehenden Gebäude aus deren Art, Baujahr, Wohnfläche, Mietniveaustufe und erzielbaren Nettokaltmieten zusammensetzten.
Daraus ergibt sich eine typisierte Bewertung, die aber nicht den individuellen Verkehrswert des Objekts darstellt und dies auch gar nicht soll. Das Konzept einer individuellen Grundstücksbewertung hat der Gesetzgeber explizit verworfen, da Steuerpflichtige und Finanzämter dies bei der Vielzahl von Grundstücken nicht mit vertretbarem Aufwand hätten stemmen können. Die so in den Streitfällen festgestellten Werte von 91.600 Euro bzw. 318.000 Euro halten die betroffenen Grundeigentümerinnen und -eigentümer für unrealistisch überhöht, da die Besonderheiten ihrer Immobilien unberücksichtigt blieben. So handelte es sich in einem Fall um ein 1880 erbautes Einfamilienhaus, an dem seither keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden waren. Im anderen Fall ging es um eine in zweiter Reihe und Hanglage gelegene Immobilie, die nur über einen Privatweg erreichbar war. Da das BewG aber ausschließlich die typisierte Bewertung vorsieht, blieben diese Einwände in den Feststellungsbescheiden unberücksichtigt.
Für den BFH war dieser Umstand denn auch der Hauptansatzpunkt seiner Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bescheide. Zunächst konstatiert der Senat in Übereinstimmung mit den Kriterien des BVerfG, dass der Gesetzgeber bei Massenverfahren wie der Grundsteuer mit 36 Millionen zu bewertenden Grundstücken einen großen Spielraum für Pauschalierungen und Typisierungen habe. Gewisse Überschreitungen der tatsächlichen Werte sind Grundeigentümerinnen und -eigentümern auch nach Ansicht des BFH zumutbar. Allerdings müsse bei deutlich zu hoch angesetzten Feststellungen von Grundsteuerwerten der Nachweis eines niedrigeren Wertes möglich sein.
Verfassungskonforme Auslegung als Ausweg
Das geltende Recht sieht zwar keine Möglichkeit vor, einen niedrigeren Immobilienwert nachzuweisen. Der BFH legte die einschlägigen Bewertungsvorschriften der §§ 218 ff. BewG aber verfassungskonform dahingehend aus, dass es bei deutlichem Überschreiten im Einzelfall trotzdem möglich sein müsse, niedrigere reale Werte nachzuweisen. Der BFH argumentiert, man habe bereits in anderen Fällen typisierender Bewertungsnormen den Nachweis niedrigerer Werte zugelassen, wenn ohne die Nachweismöglichkeit ein Verstoß gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot vorliegen würde. Die Grenze, wann ein deutliches Überschreiten angenommen werden kann, sieht der BFH in der Linie früherer Entscheidungen von BVerfG und BFH bei Überschreitungen um mehr als 40% des realen Wertes.
In der Konsequenz dieser Argumentationslinie bestehen bereits einfachrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Feststellungsbescheide. Durch diesen "Kniff" entgeht der BFH dem Zwang, deutlicher zu den grundlegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln Stellung zu beziehen. Anders als übrigens noch die Vorinstanz, die nämlich ernstliche Zweifel daran hatte, ob die einschlägigen §§ 218 ff. BewG generell dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Gebot einer realitäts- und relationsgerechten Grundstücksbewertung entsprechen. Die vielen gesetzlichen Typisierungen und Pauschalierungen würden zu Wertverzerrungen führen und die gewählte Regelungstechnik bewirke eine gleichheitswidrige Nivellierung der Grundstücksbewertung, bei der hochwertige Immobilien systematisch unterbewertet und Immobilien schlechter Lagen systematisch überwertet würden, so das FG damals. Ein weiteres Problem wird in den verwendeten Bodenrichtwerten gesehen, die ungenau und unvollständig erfasst und dadurch weitere gleichheitswidrige Verzerrungen verursachen würden.
Auslegung des BFH geht zu weit
Das Bundesmodell leidet an einem konzeptionellen Mangel, der sich aus der Reformhistorie ergibt. Zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland hatte der Bund die Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer, hat diese aber später nach Art. 72 Abs. 2 GG an die Bundesländer verloren. Das schon ergangene Bundesgesetz blieb aber in Kraft. Damit derartige Gesetze nicht versteinern, hat der Bund nach der Rechtsprechung des BVerfG eine gewisse Fortschreibungskompetenz – aber nur unter Beibehaltung der wesentlichen Elemente eines Gesetzes. Als 2018 die Reform notwendig wurde, hat der Bund das Konzept der Einheitswerte aus dem BewG deshalb lediglich fortschreiben, aber die Grundsteuer nicht wesentlich neu konzeptionieren wollen. Darum sind die Bewertungsregelungen so geworden, wie sie sind. Die typisierten Werte sind weder eine radikal einfache Bewertungsmethode, noch greifen sie die tatsächlichen aktuellen Verkehrswerte auf. Erst nachdem das reformierte Bundesmodell konzeptioniert war, ist gewissermaßen auf den letzten Metern die Freigabeklausel für die Bundesländer mit Art. 105 Abs. 2 GG n.F. ins Spiel gekommen. Das bisherige Bundesmodell aber blieb so, wie es war.
Die Lösung des BFH erscheint aktuell wie ein praktikabler Kompromiss. Die hineininterpretierte Möglichkeit zum Nachweis niedrigerer Grundsteuerwerte im Einzelfall entschärft die rechtlichen Bedenken. Zugleich bleibt die Grundsteuer erhalten und die Gemeinden können auf dieser Basis ab 2025 die neue Grundsteuer erheben. Nicht zuletzt bleibt dem Gesetzgeber eine etwaige erneute verfassungsrechtliche Schlappe vor dem BVerfG erspart. Allein die dogmatische Begründung mittels verfassungskonformer Auslegung überzeugt nicht restlos. Selbstredend sind Gesetze verfassungskonform auszulegen, insbesondere bei Zweifeln und Streitfällen. Die Auslegung ist aber von der Rechtsfortbildung abzugrenzen und hat sich im Rahmen der gesetzgeberischen Grundentscheidung zu halten. Wenn der Gesetzgeber explizit ausschließlich eine typisierte Bewertung von Grundstücken ohne Einzelnachweis niedrigerer Werte vorsieht, dann bleibt in dieser Hinsicht kein Auslegungsspielraum. Indem die Rechtsprechung diesen Ausweg quasi durch die Hintertür einführt, überschreitet sie die Grenzen der Gesetzesauslegung, der BFH hätte die Reform damit erneut Karlsruhe zur Entscheidung vorlegen müssen. Mit dem nun gefundenen Ergebnis dürfte sich der Gesetzgeber daher mutmaßlich dankbar arrangieren.
Der Verfasser Prof. Dr. Dennis Klein ist Professor für Allgemeines und Besonderes Steuerrecht am Fachbereich Steuerverwaltungsdienst der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Bremen und im Nebenamt Steuerberater.