Der 1. Zivilsenat zerpflückte in der mündlichen Verhandlung die Vorlage des LG München I zu den Feststellungszielen des Musterverfahrens. "Die juristische Qualität des Vorlagebeschlusses ist, sehr vorsichtig formuliert, äußerst dürftig", sagte die Vorsitzende und BayObLG-Präsidentin Andrea Schmidt.
Anleger können dann auf Entschädigung hoffen, wenn sie wegen vorsätzlich falscher Informationen die jeweiligen Aktien kauften. Im Fall Wirecard waren es die mutmaßlich frei erfundenen Gewinne - mehrmals bestätigt durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. Die Senatsvorsitzende Schmidt kritisierte, dass das LG diese Punkte viel zu allgemein formuliert habe - es darf nach Worten der Richterin nicht unklar bleiben, welche Informationen im Einzelnen falsch gewesen sein sollen. "Es fehlt jegliche Konkretisierung."
Der Zahlungsdienstleister war im Jahr 2020 zusammengebrochen, weil angeblich auf philippinischen Treuhandkonten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren. Das Geld wird bis heute vermisst. Gegen EY richtet sich der Vorwurf, die mutmaßlich falschen Wirecard-Bilanzen nicht ordentlich geprüft zu haben. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sieht hingegen keine Grundlage für Schadenersatzansprüche.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die geschädigten Aktionäre die Hoffnung auf Schadenersatz fahren lassen müssen. Musterkläger-Anwalt Mattil hat auf 800 Seiten einen eigenen Katalog von Feststellungszielen vorbereitet, die das Gericht abarbeiten wird. Ein Urteil wird frühestens in einigen Jahren erwartet. Ein Aktionär - und in dessen Gefolgschaft aus der Ferne auch der persönlich nicht anwesende Musterkläger - beantragten, das Verfahren dem OLG München zu übertragen.
Musterklage stellvertretend für 8.500 Anleger
Auf dem Münchner Musterverfahren ruhen die Hoffnungen zehntausender Wirecard-Aktionäre, für die die Pleite des Dax-Konzerns im Sommer 2020 Kursverluste in Milliardenhöhe mit sich brachte - beim Insolvenzverwalter Michael Jaffé haben 50.000 Wirecard-Aktionäre Forderungen von 8,5 Milliarden Euro angemeldet. Auf Schadenersatz geklagt haben 8.500 Anleger, weitere 19.000 haben Schadenersatzforderungen angemeldet, ohne Klage eingereicht zu haben.
Das Musterverfahren soll die Aufarbeitung beschleunigen, da das Landgericht München I ansonsten alle 8.500 Klagen einzeln abarbeiten müsste. Als Musterkläger ausgewählt - quasi stellvertretend für die übrigen Aktionäre - hat das Oberste Landesgericht einen hessischen Bankkaufmann, der nach Angaben seines Anwalts Peter Mattil mit Wirecard-Papieren eine halbe Million Euro verloren hat. Das Bayerische Oberste Landesgericht soll dabei grundsätzlich entscheiden, ob die Aktionäre Anspruch auf Schadenersatz haben. Die vom Landgericht vorgelegten Feststellungsziele sind der Katalog der Vorwürfe gegen Wirecard und EY, die im Musterverfahren geprüft werden sollen.
An erster Stelle der "Musterbeklagten" steht der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun, gefolgt von EY auf Rang 2. Die Stimmung der Aktionäre schwanke "zwischen Wut und immer noch Aggression und Resignation", sagte am Rande der Verhandlung Daniela Bergdolt, Anwältin und Vizepräsidentin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Erst im September hatte das LG München I Wirecard-Vorstände zu Millionen-Schadenersatz verurteilt.