Im Mittelpunkt der Operation "Anom" stand ein vom FBI unter Legende entwickelter, vermeintlich abhörsicherer Messengerdienst, der gezielt an internationale Kriminelle vermarktet wurde. Nach der Zerschlagung des verschlüsselten Kommunikationsdienstes Phantom Secure im Jahr 2018 nutzte das FBI einen mitwirkenden Entwickler, um mit Anom einen eigenen, scheinbar sicheren Kryptodienst auf den Markt zu bringen. Unter dem Slogan "Von Kriminellen für Kriminelle" verbreitete sich der Dienst vor allem in der organisierten Kriminalität, ohne dass die Nutzerinnen und Nutzer ahnten, dass ihre Nachrichten an die Ermittlungsbehörden gehen würden. Die Software war so programmiert, dass sie Nachrichten von Nutzerinnen und Nutzern in den USA automatisch aussortierte, um rechtliche Hürden zu umgehen. Es wurden weltweit Millionen von Nachrichten aus mehr als 100 Ländern abgefangen, was zu über 860 Ermittlungsverfahren allein in Deutschland führte.
Der Server für die Nachrichten stand in Litauen, weshalb das FBI die dortigen Behörden benötigte, um an die Daten zu gelangen. Wie die FAZ nun berichtet, wurde die zuständige litauische Ermittlungsrichterin allerdings getäuscht, um die rechtliche Grundlage hierfür zu schaffen. Am 3. Oktober 2019 unterzeichnete sie einen Beschluss, welcher der litauischen Polizei erlaubte, heimlich Daten vom Server zu kopieren - dies aber, ohne zu wissen, dass dieser vom FBI betrieben wurde und die gesamte Operation inszeniert war. Die Ermittlerinnen und Ermittler verschwiegen der Richterin, dass sie den Kryptodienst entwickelt und selbst in Umlauf gebracht hatten. Stattdessen präsentierten sie den Server als von Kriminellen genutztes Werkzeug, was die Richterin dazu veranlasste, die Überwachung zu genehmigen.
BGH erlaubte Anom-Chatnachrichten als Beweismittel
Dieser Beschluss wurde weder den deutschen Gerichten noch dem BGH vorgelegt, der die Verwendung der Anom-Chats als Beweismittel gleichwohl bestätigte. Bemerkenswert ist, dass bis zum Bericht der FAZ nicht einmal klar war, in welchem europäischen Land der Beschluss überhaupt erwirkt wurde. Das LG Darmstadt (18 KLs 1200 Js 83736/21) sprach insoweit zu Recht von einem "Gerichtsbeschluss vom Hörensagen", ohne dies in der Beweisverwertung weiter kritisch zu sehen.
Laut FAZ-Recherchen arbeiteten das FBI und die litauischen Behörden monatelang vorsätzlich daran, das Rechtshilfeersuchen so zu formulieren, dass die wahren Hintergründe verschleiert blieben. Die Richterin wurde demnach bewusst im Unklaren gelassen, um mögliche rechtliche Bedenken – etwa wegen verbotener Tatprovokation oder gar Beihilfe durch die Behörden zu hierüber organisierten Straftaten – zu umgehen. In seiner grundlegenden Entscheidung Anfang 2025 hatte der BGH noch argumentiert, es gebe "keine belastbaren Anhaltspunkte" für ein rechtswidriges Vorgehen des ausstellenden Staates. Weiterhin gelte, dass diese Vermutung rechtmäßigen Handelns nur dann widerlegt sein könne, wenn belastbare Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich der ersuchte Staat nicht rechtstreu verhalten habe.
Doch genau das steht nun im Raum, da offenbar gezielt Informationen zurückgehalten und Formulierungen gewählt wurden, um die Genehmigung zu erhalten. Zum einen liegt hier ein schwerwiegender Vertrauensbruch seitens des FBI vor. Wenn sich die Vorwürfe jedoch bestätigen, steht die deutsche Justiz selbst vor einem erheblichen Vertrauensproblem, da sie einen nicht einmal belegten Gerichtsbeschluss kritiklos, schlicht auf Zusicherungen von ausländischen Ermittlungsbehörden, hingenommen hat. Im Weiteren hat dies auch juristische Relevanz: Wenn selbst Gerichte in EU-Staaten bewusst getäuscht werden, untergräbt dies das Prinzip des "gegenseitigen Vertrauens", auf dem die Zusammenarbeit zwischen Staaten basiert.
Auch BVerfG erhob keine Einwände
Müssen bereits abgeschlossene Verfahren nun wieder aufgerollt werden? Dies wäre zwar konsequent, doch verfassungsrechtlich bleibt es wohl wie gehabt, wie das BVerfG kurz nach Bekanntwerden der aktuellen Vorgänge zum Thema Anom konkret hervorgehoben hat, freilich in Unkenntnis der neuesten Enthüllungen. So sah man dort zwar Erkenntnisdefizite, allerdings lediglich insoweit, als "der den iBot-Server hostende Staat sowie das konkrete Zustandekommen und der genaue Inhalt der gerichtlichen Beschlüsse nicht weiter bekannt sind". Dass dem so ist, sieht das BVerfG – wie zuvor der BGH – jedoch nicht als problematisch an. Eine Überprüfung dieser Beschlüsse hätte zwar Aufschluss darüber geben können, ob die Speicherung und Weitergabe der Daten an die USA mit dem Recht des unbekannten Mitgliedstaats der EU vereinbar sind, letztlich kommt es hierauf nach Karlsruher Sichtweise aber gar nicht an. Das BVerfG stellt ausdrücklich klar, dass Mängel beim Zustandekommen oder bezüglich des Inhalts der unbekannten Beschlüsse nicht dazu führen, dass die Erhebung der Anom-Daten grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen nicht mehr genügt.
Vor dem Hintergrund der von der FAZ aufgedeckten Täuschungen der Justiz wirken solche Ausführungen wie eine Farce der modernen Vorstellung eines Rechtsstaats - und unterstreichen die Bereitschaft, Ermittlerinnen und Ermittlern auf Zuruf zu folgen. Zugleich zeigt sich bereits jetzt die eklatante Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung des Themas und der justiziellen Bewertung, die offensichtlich auf vorrangige Verfolgung um jeden Preis und weniger auf eine ernsthaft ausgestaltet rechtsstaatlich-formelle Prüfung ausgelegt ist. Dabei verkennen BGH und BVerfG, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens eigentlich nur innerhalb der Justiz gilt und durch diese nun zumindest faktisch unreflektiert auf Ermittlungsbehörden als Teil der Exekutive ausgedehnt wird.
Kontrolle der Ermittlungsbehörden durch Justiz fällt aus
Im Ergebnis geht es daher auch um nichts Geringeres als die Grundsätze der Gewaltenteilung samt wechselseitiger Kontrolle, die hier de facto zu Lasten rechtsstaatlich geführter Strafprozesse und der Rechte der Angeklagten eingeschränkt werden. Die beim BGH anzutreffende Haltung, dass eine Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden durch Beweisverwertungsverbote hin zu rechtskonformem Verhalten als Effekt keine Rolle zu spielen hat (BGH, 2 StR 25/15), verstärkt diesen Effekt hinreichend.
Zu Recht hatte daher der Beschwerdeführer beim BVerfG darauf hingewiesen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens an seine Grenzen stößt, wenn sich formale Fragen in einem solchen Verfahren angesichts der Geheimhaltung des Mitgliedstaats und der dort ergangenen Beschlüsse durch die USA als "Blackbox" darstellen. Hierzu führt das BVerfG aus, man habe die insoweit bestehende "Beweislastverteilung" zur Kenntnis zu nehmen. Was nicht weniger bedeutet als: Wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein ausländischer Staat bei der Gewinnung der Beweismittel die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes verletzt haben könnte, dann muss man ihm vertrauen. Erst wenn besondere Umstände ersichtlich sind, die ausnahmsweise zu einem Beweisverwertungsverbot führen, wird der verfassungsrechtlich gebotene Grundsatz, dass alle in die Hauptverhandlung eingeführten Beweise verwertbar sind, infrage gestellt.
Justiz lädt Ermittler zu Tricks ein
Eben hier stellt sich dann die Frage, wie man sich überhaupt noch verteidigen können soll, wenn angesichts einer solchen "Blackbox" die formalen Grundlagen der Beweiserhebung einer Kontrolle überhaupt nicht mehr zugänglich sind. Tatsächlich bietet ein derart willfähriges Verhalten der Justiz geradezu die Einladung, durch nicht mehr nachvollziehbare Kanäle über intransparente Ermittlungen in unbekannten Staaten quasi "über Bande" rechtswidrig erhobene Beweismittel Hauptverhandlungen zugänglich zu machen. Wir erleben an dieser Stelle praktisch die strafprozessuale Version eines Beweismittel-Grauimports. Obwohl dies erhebliche rechtsstaatliche Bedenken auslösen sollte, schreibt das BVerfG hierzu lediglich einen Satz: "Auf die tatsächlichen Möglichkeiten (...) sich selbst ein tiefergehendes Bild von der Beweiserhebung im Ausland zu machen, kommt es (...) nicht an".
Während sich die deutsche Rechtsprechung konsequent auf den Standpunkt "im Zweifel pro Verurteilung" stellt, dürfte man dies mit dem EuGH (C-670/22) deutlich kritischer sehen. Dieser hat in seiner Encrochat-Entscheidung klargestellt, dass eben jene Informationen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen sind, zu denen weder die Anklage noch die Verteidigung sachgerecht Stellung nehmen können. Dazu gehört die Möglichkeit, die Integrität von Beweismitteln zu prüfen, was bei nicht dokumentierten Beweisketten schon nicht mehr gegeben ist. Dass derart objektiv-wissenschaftliche Fakten, die als Grundlagen der IT-Forensik gelten, nicht durch schlichtes Vertrauen in Ermittlungsbehörden auf Zuruf ersetzt werden können, muss die deutsche Rechtsprechung offenkundig erst noch lernen. Andernfalls läuft sie Gefahr, ebenso zum Dauerinstrument manipulativer Ermittlerinnen und Ermittler zu werden, wie zum Katalysator des gesellschaftlichen Misstrauens in Strafprozesse.
Der Autor Jens Ferner ist Fachanwalt für Strafrecht und IT-Recht. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Strafverteidigung, insbesondere in der Schnittmenge von IT-Recht und Strafrecht.


