Streng genommen ist der runde Wiegentag des Aktiengesetzes von 1965, den Gesellschaftsrechtler in diesen Tagen feiern, eine Mogelpackung: Schon im Januar 1937 haben die Nationalsozialisten einen Vorläufer verabschiedet. Ausgerechnet dieser enthielt noch eine Regelung, deren Wiedereinführung – natürlich in deutlich anderem Gewand – jetzt Befürworter findet: "Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebs und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es erfordern." (§ 70 AktG 1937) Denn die gesellschaftspolitischen Ziele wie "Diversity, Equitiy and Inclusion" (DEI), deren Ablehnung in den USA unter Präsident Donald Trump eingesetzt hat und die auch in der EU mittlerweile bei manchen Überdruss erzeugen, kann Unternehmen in eine juristische Zwickmühle bringen.
"Eine Klarstellung des Gesetzgebers, dass der Vorstand sich zum Gemeinwohl bekennen darf, täte gut", sagte die Hochschullehrerin Lisa Marleen Guntermann von der Bucerius Law School am Donnerstag auf einer Tagung der Wissenschaftlichen Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR) in Berlin. Aktuelle Beispiele: Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Menschenrechte (also das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz) und die "Corporate Sustainability Reporting Directive" (CSRD) sowie die "Corporate Sustainability Due Diligence Directive" (CSDDD) mit ihren umfangreichen Berichtspflichten, die von Brüssel derzeit wieder abgeschwächt werden.
Dabei war das Aktienrecht ursprünglich nur am Interesse des Unternehmens und allenfalls seiner Anteilseigner orientiert (shareholder value); später wurde auch das Wohl etwa von Lieferanten und Kunden mitberücksichtigt (stakeholder value). Insbesondere mit der Einführung von Frauenquoten begann eine "intensivere Indienststellung des Aktienrechts zur Umsetzung gesellschaftspolitischer Anliegen", wie der Juraprofessor Jens Koch darlegte. Vorher drehte es sich eher um Fragen der Vorstandsvergütung (vor allem, nachdem der BGH die Entlohnung von Managern nach der Übernahme des Mannesmann-Konzerns durch Vodafone für strafwürdig gehalten hatte). Das 1965 mit dem neuen Aktiengesetz eingeführte Konzernrecht sollte Minderheiten vor der Macht der herrschenden Obergesellschaften schützen.
"Schwarze Kassen"
Ab Ende der 1970-er Jahre ging es dann um die Ermessensspielräume der Vorstände, deren strenger gewordene Haftung (etwa des Finanzvorstands von Siemens für Schwarze Kassen zur Bezahlung von Korruption im Ausland) und jene der Aufsichtsräte. Letztere mussten bei ihrer Überwachungsfunktion zunehmend professioneller arbeiten und sollten sich zum "Sparringspartner" der Unternehmensleitungen entwickeln. Führende Wissenschaftler wie Marcus Lutter und die Schar seiner namhaften Schüler pochten derweil auf größeren Schutz der Anleger.
Allein ab 1994 folgten 16 einschlägige Gesetze (wenige davon auch im Kontext der globalen Finanzkrise um 2008) – was zum Schlagwort von der "Aktienrechtsreform in Permanenz" führte. Ein Meilenstein war die Einführung des Deutschen Corporate Governance Kodex, der als "soft law" Anregungen und Empfehlungen geben sollte. Quasi-Erfinder war der Rechtslehrer Theodor Baums – im Auftrag des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) nach dem spektakulären Zusammenbruch des Bauunternehmens Holzmüller. "Mehr Mut", davon nach dem Motto "Comply or explain" auch gelegentlich abzuweichen, wünschte sich die Syndikusanwältin Neda von Rimon. Wobei sie aber einräumte, dass dem der Einfluss von Aktionärsvereinigungen und kommerziellen Stimmrechtsberatern sowie die Angst vor einem "Reputationsschaden" in der Öffentlichkeit oft entgegenstehen.
Als eigentlicher Urheber der meisten jener Gesetzesneuerungen mit ihren nur Insidern bekannten Abkürzungen wie KonTraG, NaStraG, UMAG, TransPuG oder VorstAG gilt der langjährige Referatsleiter im Bundesjustizministerium Ulrich Seibert. Die meisten der neun Minister und Ministerinnen in seiner Amtszeit hätten sich ohnehin kaum fürs Gesellschaftsrecht interessiert – für die gab es aufmerksamkeitsträchtigere Arbeitsfelder. Umso gewichtiger war sein Einfluss, wobei er sich in seiner Arbeitsstätte weniger in einer Werkstatt als in einem Atelier wähnte. Spätestens im zweiten Anlauf sei es gelungen, durch Einführung des Freigabeverfahrens das Geschäftsmodell der "räuberischen Aktionäre" weitgehend zu beenden, die mit Provokationen und Fragekatalogen Anfechtungsgründe erzeugen, dadurch Transaktionen lahmlegen und sich die Rücknahme ihrer Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklagen vergolden lassen.
Tricks beim Gesetzemachen
Seiberts Trick gegen den allgegenwärtigen Druck von Lobbyisten aus Unternehmen oder der Finanzbranche (die angesichts ihrer "Multi-Aufsichtsräte" das Aufbrechen der "Deutschland-AG" verhindern wollte) und eigenwilligen Parlamentariern: "Man nehme immer einen Aufreger in einen Gesetzentwurf hinein, der scheitert, aber an deren Ende die Reform im Windschatten segelt." Sein Fazit: "Politik im Aktienrecht ist skandalgetrieben." Wie etwa, wenn ein Regierungschef auf dem Balkon steht und den Holzmüller-Beschäftigten zuruft: "Wir retten Euch!"
Die Corona-Krise bahnte schließlich den Weg zu einer stärkeren Digitalisierung der Hauptversammlungen durch virtuelle oder hybride Aktionärstreffen. Auch für den Umgang mit KI sieht die Forscherin Guntermann das AktG gut gerüstet. Die geopolitischen Konflikte mit Russland (etwa wegen der von den USA verhängten Sanktionen, denen die EU mit gegenläufigen Gesetzesbefehlen begegnen will), China oder um Israel haben allerdings den Beratungsbedarf durch Rechtsabteilungen und externe Kanzleien für das Management verschärft; mit politischen Äußerungen sollten Unternehmenslenker sich da in der Öffentlichkeit lieber zurückhalten, hieß es.
Wirtschaftsanwalt Gerhard Krieger sieht die Rolle der Anwaltschaft ebenso wie die der Rechtsabteilungen gewachsen. Der Altmeister seiner Zunft erinnerte an Gutachten, die er häufig zu feindlichen Übernahmen trotz "poison pills" (Maßnahmen des angegriffenen Unternehmens zur Abwehr) und aktivistischen Investoren schreiben musste. Ebenso zu der verschärften Haftung von Managern und Aufsehern, gegen die die "Business jugement rule" – die die verbliebene Entscheidungsfreiheit bei genügender Sorgfalt und Information garantieren soll – und die Berufshaftpflichtversicherungen (D&O) nur begrenzt helfen konnten. Compliance-Anforderungen wurden nach Kriegers Worten immer stärker ausgeweitet. Deshalb suchten Konzerne heutzutage häufig schon im Vorfeld eine Beratung und nicht erst im Nachhinein bis hin zu internen Untersuchungen (internal investigations). Wenn es darum gehe, die Unabhängigkeit zu betonen oder einen Mit-Vorstand zu entlassen, laufe dies übrigens zunächst an den hauseigenen Juristen vorbei.
"Minderheitenrechte zu schwach"
Eine Gegenposition nahm der Rechtsanwalt Henrik Humrich ein: Er sieht den Schutz der Minderheitsaktionäre in Deutschland deutlich weniger ausgeprägt als in den USA sowie dem Vereinigten Königreich und fürchtet deshalb mangelndes Vertrauen in den Kapitalmarkt – erntete dafür allerdings in diesem Kreis allerhand Widerspruch. Denn es gebe durchaus mehrere Instrumente im Aktiengesetz zur Kontrolle der Mehrheit und der Geschäftsleitung; so die Sonderprüfungen, den "besonderen Vertreter" und eine Art Klageerzwingungsverfahren gegen Organmitglieder. Diese gelten allerdings teilweise als zu beschwerlich und damit abschreckend, teilweise aber auch wiederum als zu weitreichend. Freilich gilt Humrichs Sorge ohnehin vorrangig der Masse der nicht an einer Börse notierten AGs: "Der Missbrauch durch Freunde und Familienmitglieder im Aufsichtsrat findet im Verborgenen statt."
Der Herzenswunsch wohl aller Referenten blieb die Entbürokratisierung des Beschlussmängelrechts: Schon wegen geringster Formfehler kann eine Entscheidung der Hauptversammlung gekippt und manches Geschäft dadurch schon im Vorfeld verhindert werden, was einen immensen Beratungsbedarf erfordere. Andererseits seien die Hürden dafür teilweise zu hoch. Juraprofessor Koch nannte den geltenden Zustand "kaputt", meinte aber, die schon verwirklichten Schritte zur Verbesserung müssten nur ein wenig weiterentwickelt werden.
Einen kleinen Einblick hinter die Kulissen der Rechtsprechung gewährte schließlich Alfred Bergmann, einst Vorsitzender des fürs Gesellschaftsrecht zuständigen II. BGH-Zivilsenats. Froh zeigte er sich, dass Unternehmen unerwünschte Entscheidungen nicht mehr durch Rücknahme der Revision verhindern könnten, seit es das neue Leitentscheidungsverfahren gebe: Das könne es auch beim Anlegerschutz bald mal geben. Generell droht es laut Bergmann an Material für die Rechtsfortbildung zu fehlen, weil immer weniger Revisionen in Karlsruhe eingelegt werden. Da es im Senat keine spezialisierten Mitglieder fürs Aktienrecht gebe, säßen mitunter Richter im Spruchkörper, die vorher lange Strafrecht betrieben hätten: Mangels Praxiserfahrung werde Manches vom "Grünen Tisch" aus entschieden. Formal abgestimmt werde in den Beratungen fast nie, wenn die mündliche Verhandlung nichts Anderes ergeben habe, als der jeweilige Berichterstatter in seinem Votum vorgeschlagen habe. Ein weiteres Bekenntnis: Eigene Fehlschlüsse gestehe man ungern ein. Diese in einer Pressemitteilung zu bekennen, gehe nicht – eher verstecke man die Wende in einer neuen Entscheidung. Und wenn das wie in den berüchtigten Fällen "Holzmüller" und "Gelatine" rund 20 Jahre lang dauere.


