Dr. Oliver Grün ist Präsident des Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi).
MMR 2024, 739 Wie die deutsche Wirtschaft insgesamt ist auch unsere Digitalbranche geprägt von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU). Für deren Interessen setzt sich der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) ein. Sie machen den Großteil unserer IT-Branche aus und stellen die Mehrheit der Arbeitsplätze. Das ist eine Besonderheit und Stärke unseres Digitalsektors, der eben nicht von einigen wenigen Big Playern mit generalisierten All-in-One-Lösungen beherrscht wird, wie es in vielen anderen Ländern der Fall ist. Damit ist er weitgefächert, innovativ, vielfältig spezialisiert und der perfekte Partner für die Digitalisierung unserer Wirtschaft und Verwaltung.
Dennoch scheinen Deutschland und Europa immer weiter hinter den Digitalbranchen anderer Länder zurückzufallen. So hat sich der Anteil der EU am globalen Informations- und Kommunikationstechnologien(IKT)-Markt in den letzten zehn Jahren halbiert, von 21,8% auf 11,3% (EU-Kommission, 2023 Report on the state of the Digital Decade, S. 7, abrufbar unter: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/2023-report-state-digital-decade). Das liegt nicht zuletzt daran, dass die digitale Transformation in der Politik seit Jahren auf dem Abstellgleis steht. Es ist höchste Zeit, sie wieder in Fahrt zu bringen. Dafür muss der IT-Mittelstand als treibende Kraft genutzt werden.
Mission: Digitale Souveränität
Die geringe Priorisierung von Digitalisierung und der eigenen Digitalwirtschaft hat dazu geführt, dass sich Deutschland und auch Europa insgesamt über die vergangenen Jahrzehnte in einseitige Abhängigkeiten von großen IT-Konzernen aus den USA und China manövriert haben. Die EU ist bei über 80% der digitalen Produkte, Dienstleistungen und Infrastrukturen auf Importe aus dem Ausland angewiesen (EU-Report). Damit geben wir sowohl die Wertschöpfung als auch die Mitgestaltung der wichtigsten Technologien der Zukunft aus der Hand. Gleichzeitig machen wir uns auch politisch verwundbar, wie wir uns auch durch Abhängigkeiten im Energiesektor verwundbar gemacht haben. Um in der Digitalisierung nun wieder aufzuschließen, müssen wir uns von der reinen Anwenderrolle, die wir mehr und mehr einnehmen, wegbewegen und die digitale Zukunft mit Produkten und Innovation „Made in Germany“ und „Made in Europe“ mitgestalten.
Dafür müssen wir auf unsere große Stärke setzen: die mittelständisch geprägte Digitalwirtschaft. In traditionellen Branchen, wie etwa der Industrie, ist der deutsche Mittelstand eine echte Erfolgsgeschichte, die weltweit bewunderte Nischen-Marktführer hervorgebracht hat. Dieses Erfolgsmodell lässt sich durchaus auf die Digitalbranche projizieren, mit gezielten und spezialisierten IT-Lösungen, die auf die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Branchen eingehen. Dabei entstehen Produkte, die echte Anwendungsfälle mit Expertise angehen, statt nur die nächste breit angelegte Generallösung auf den Markt zu bringen. Der Anwender findet dabei einen Partner auf Augenhöhe, der in engem Dialog maßgeschneiderte Lösungen anbieten kann.
Mit dieser Nischen-Digitalisierung können wir Wertschöpfung bei Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) nach Deutschland zurückholen, zB mit der Entwicklung spezialisierter, vertikaler KI-Modelle - sei es für die öffentliche Verwaltung, Medizin oder Buchhaltung. Weiterhin können fokussierte Anwendungsbereiche, wie in Europa hergestellte Cybersicherheitssoftware oder auf Nachhaltigkeit ausgerichtete IT-Anwendungen, zu erfolgreichen Geschäftsmodellen mit großem Mehrwert für andere Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen werden.
Gleichzeitig werden qualitative Alternativangebote zu denen der internationalen Tech-Konzerne geschaffen, die im Einklang mit europäischen Werten und Gesetzen, zB zum Datenschutz, konzipiert werden. Diese sind eine wichtige Grundlage für unsere digitale Unabhängigkeit. Denn wenn eine Vielzahl an Produkten verschiedener Anbieter genutzt wird, reduzieren wir unsere Abhängigkeit von den wenigen großen Anbietern.
Die größte Hürde: Bürokratie und Regulierungslast
Um ihr volles Potenzial für unsere digitale Souveränität entfalten zu können, brauchen IT-KMU Freiheit und Raum für Innovation und Wachstum. Aktuell werden sie allerdings oft gebremst und das vor allem durch Bürokratie und Regulierungslast. Anlässlich der EU-Wahl hat der BITMi eine Umfrage unter IT-Mittelständlern durchgeführt, die dies mit Zahlen belegt. Darin gab die große Mehrheit der Befragten Bürokratie als größte Hürde für IT-KMU in Europa an. Damit überflügelt die Bürokratie das seit Jahren größte Problem der Branche, nämlich den Fachkräftemangel, um ganze 30% (abrufbar unter: https://www.bitmi.de/bitmi-umfrage-zur-neuen-eu-legislatur-buerokratie-erstmalig-groessere-huerde-als-fachkraeftemangel/).
Rückblickend auf die vergangene Legislaturperiode der EU ist das sehr bezeichnend. Denn deren Digitalpolitik war geprägt von Beschlüssen zu Regulierungen, darunter die KI-VO, der Cyber Resilience Act und die NIS2-RL. Diese sollen zwar europäische Ethik- und Sicherheitsstandards für alle hier agierenden IT-Unternehmen durchsetzen, treffen KMU mit großem bürokratischem Aufwand und hohen Compliance-Kosten aber viel härter als internationale Großkonzerne, für die diese keine großen Hürden sind.
Die Umfrage zeigt auch eine sehr ernüchternde Einschätzung des IT-Mittelstands zum Stand der Digitalen Souveränität in Europa: So sagten fast 92% der Befragten, dass die digitale Zukunft aktuell außerhalb von Europa gestaltet wird. Nur rd. 8% finden, dass die EU auf _£einem guten Weg ist, um in Zukunft digitale Abhängigkeiten zu reduzieren. Hier besteht ein klarer Handlungsaufruf für die neue EU-Kommission: Um das Ziel einer selbstbestimmten Digitalisierung zu erreichen, muss digitalpolitisch ein neuer Weg eingeschlagen werden.
Ausblick für Europa
Für die anstehende EU-Legislatur 2024-2029 fordert der IT-Mittelstand eine Umorientierung der europäischen Digitalpolitik hin zu einem Digital New Deal, den der BITMi gemeinsam mit seinem Dachverband, der European DIGITAL SME Alliance, erarbeitet hat (https://www.digitalsme.eu/digital/uploads/DIGITAL-SME-Manifesto-2030.pdf - Manifesto 2030). Im Kern muss die europäische Digitalpolitik sich von ihrem Fokus auf die Regulierung mächtiger internationaler IT-Konzerne wegbewegen und die eigene Digitalwirtschaft in den Mittelpunkt seiner Maßnahmen stellen. Diese ist in Europa, wie in Deutschland, geprägt von innovativen KMU.
Nach der Regulierungslast der vergangenen Jahre brauchen diese nun eine Phase der Entlastung, die ihnen wieder Freiraum für Innovation gibt. Weiterhin muss die Belastung durch Bürokratie abgebaut werden. Neben einer europaweiten Digitalisierung der Verwaltung, wie sie laut BITMi-Umfrage 63% der IT-Mittelständler von der neuen Kommission fordern, müssen dafür bürokratische Prozesse zur Unternehmensgründung und -führung über die Mitgliedstaaten hinweg harmonisiert werden. Durch Fördermöglichkeiten und vereinfachte Börsengänge kann weiterhin das Wachstum von IT-Scale-ups in Europa ermöglicht sowie Wertschöpfung in Europa gehalten werden, ohne auf Investoren außerhalb der EU angewiesen zu sein.
Um das noch immer prominente Problem des Fachkräftemangels in der Digitalbranche anzugehen, müssen sich Europa und speziell auch Deutschland attraktiv für die Einwanderung qualifizierter IT-Experten gestalten und auch dafür bürokratische Hürden aus dem Weg räumen. Weiterhin brauchen wir qualitative Bildungs- und Weiterbildungsangebote sowie attraktive Anreize für die Weiterbildung und Umschulung von Angestellten in traditionellen Branchen, um ihnen die notwendigen Fähigkeiten für eine digitalisierte Wirtschaft zu vermitteln.
Konkrete politische Stellschrauben für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für IT-KMU in Europa zeigt der BITMi gemeinsam mit der European DIGITAL SME Alliance im Manifesto 2030 - European Digital New Deal auf.
Bundesverband IT-Mittelstand
Der Bundesverband IT-Mittelstand e.V. (BITMi) vertritt über 2.500 Unternehmen der Digitalwirtschaft und ist damit der größte IT-Fachverband für ausschließlich mittelständische Interessen in Deutschland.
Aachen, im September 2024