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Paul T. Schrader, Legal Tech

Prof. Dr. iur. Maximilian Herberger ist Ehrenvorsitzender des Deutschen EDV-Gerichtstages in Saarbrücken.

MMR-Aktuell 2024, 02015   „Legal Tech“ ist im juristischen Diskurs eine dominante Vokabel geworden. Sieht man aber genauer hin, so stellt man fest: Eine große, wenn nicht sogar die überwiegende Anzahl von Veröffentlichungen widmet sich den mit „Legal Tech“-Anwendungen verbundenen Rechtsfragen. Dahinter zurück tritt folglich im Gesamtbild die Frage, wie man mit Hilfe von „Legal Tech“ juristische Aufgabenstellungen und Workflows (dies im weitesten Sinne verstanden) optimieren kann. Die so zu beobachtende Schieflage wird sich nur beseitigen lassen, wenn es inspirierende Werke gibt, die überzeugend dartun, dass Legal-Tech-Basiswissen – als Grundlage für die Behandlung der durch Legal Tech aufgeworfenen Rechtsfragen – wesentlich mit zum Aufgabenbereich der Jurisprudenz gehört. Ein solches Werk liegt mit Schraders „Legal Tech – Eine Orientierung“ nun vor.

1. Die innerjuristische Legal-Tech-Debatte weist ein Charakteristikum auf, das sich als Zugangshindernis begreifen lässt. Sie ist nicht selten so diversifiziert und facettenreich, dass es für Außenstehende schwer ist, sich mit vertretbarem Aufwand in den Gegenstandsbereich einzuarbeiten. Daraus resultiert dann eine Schwellenangst, die einem zwanglosen innerjuristischen Diskurs entgegensteht. Auch diesbezüglich ist das Buch von Schrader ein wichtiger Beitrag zur Lösung dieses Problems: „Die vorliegende Abhandlung soll eine Orientierung geben – mehr nicht.“ (Rn. 5) Der bescheidene Zusatz „mehr nicht“ steht für den zurückhaltenden Stil des Buchs, der – anders als manche Legal-Tech-Rhetorik – nicht auf Überredung, sondern auf verständliche Überzeugungsarbeit setzt. Auf diese Weise wird zugleich noch eine Zugangshürde beseitigt, die manche unnötig enigmatisch geprägte Legal-Tech-Diskurse mit ihrer für die juristische Zielgruppe nur schwer zu überwindenden Verschlossenheit aufbauen. Schrader spricht hier zu Recht von der Notwendigkeit einer Entzauberung. (Rn. 6) Manches Legal-Tech-Gebilde erinnert nämlich nach der nötigen Entzauberung an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern und kann erst dann – übrigens nicht nur im juristischen Fachdiskurs, sondern auch im politischen Bereich – für eine breitere Öffentlichkeit nachvollziehbar Gegenstand kritischer Erörterungen werden.

2. Mit den beschriebenen Schritten sind aber noch nicht alle Fragen geklärt, die mit einer wissenschaftstheoretischen Verortung einer denkbaren Disziplin „Legal Tech“ verbunden sind. Eine fundamentale Frage ist nämlich die, ob Legal Tech per se den normativen Anspruch erheben kann, im Wissenschaftskonzert mit Bezug auf Theorie und Praxis eine Rolle zu spielen. Im Legal-Tech-Umfeld ist diesbezüglich oft – explizit oder implizit – der Versuch zu beobachten, die Notwendigkeit der Anwendung von Legal-Tech-Angeboten durch deren bloßes Vorhandensein zu rechtfertigen. Dahinter steht letzten Endes ein Sein-Sollen-Fehlschluss, der nicht immer bewusst wahrgenommen wird. Vom Sein auf ein Sollen kann man nur mit Hilfe von übergeordneten Brückenprinzipien schließen, die empirische Befunde mit normativen Schlussfolgerungen verbinden. Ein solches Brückenprinzip kann zB konstruiert werden, wenn man zeigt, dass bestimmte Technologien – richtig implementiert – zu einer besseren Verwirklichung von anerkannten Rechtswerten oder methodologischen Postulaten führen, als dies überkommene Verfahrensweisen tun.

3. Schrader argumentiert genau auf dieser Grundlage, indem er das Kapitel „Recht und dessen Anwendung: Methoden des Rechts“ (Rn. 208 ff. mit besonderer Betonung der Auslegungsmethoden, Rn. 233 ff.) dem Kapitel „Nutzung der Datenverarbeitung in der Rechtspraxis“ (Rn. 274 ff.) voranschickt und darin zu Beginn das Prinzip der Zweck-Mittel-Rationalität in dem Sinne thematisiert, „dass mit der Anwendung des Rechts ein bestimmter Zweck verfolgt wird.“ (Rn. 209)  Was so einfach klingt, hat als Prinzip folgenreiche Konsequenzen. Daraus ergibt sich nämlich, dass die im Recht anerkannten Zwecke (und nur sie) bestimmen, ob etwas als taugliches Mittel zu ihrer Realisierung in Frage kommt.

4. Geht man von der Methodenlehre im Recht aus und betrachtet von dort aus Informatik-Angebote, wird deutlich, dass es an einer wichtigen Stelle eine Strukturähnlichkeit gibt: „Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen Ablaufplänen von Computerprogrammen und der Gesetzesformulierung liegt in der Verwendung des Konditionalstils.“ (Rn. 244) Durch diese Sichtweise ist es möglich, die Abbildung juristischer Fragestellungen in Programmen nicht als „Import“ von etwas dem rechtlichen Denken Fremdem zu verstehen, sondern als Ausdrucksweise von Denkformen, die der Wissensrepräsentation im Juristischen – dies auch in seiner Ausprägung aus der Zeit vor dem Computer – verwandt ist. Zugespitzt könnte man sagen, dass die Juristen was die Wissensrepräsentation angeht – Informatiker „avant la lettre“ waren. Wenn sich angesichts dieser Beobachtung noch immer Überraschung einstellt, so ähnelt dies ein wenig der Überraschung, mit der Monsieur Jourdain in Molières „Le Bourgeois Gentilhomme“ feststellt, dass er schon seit mehr als 40 Jahren in Prosa-Form gesprochen hat, ohne es zu bemerken (II, 4). Wie dem auch sei: Die Feststellung einer fundamentalen Strukturähnlichkeit zwischen Gesetzesformulierung und Ablaufplänen von Computerprogrammen erlaubt es, einen Bogen zur Programmierung in Python zu schlagen, ohne sich vom juristischen Anwendungshorizont zu verabschieden. (Rn. 90 ff.) Zugleich bietet diese Strukturähnlichkeit eine Grundlage für künftige Geschäftsmodelle. (Rn. 415)

5. Man kann nicht von „Legal Tech“ sprechen, ohne zugleich das Thema „Künstliche Intelligenz“ zu berühren. Überlegungen dazu begleiten leitmotivartig den Gedankengang des Buchs beginnend mit Abschnitt A.IV., der sich mit „Machine Lear­ning“ und „Künstlicher Intelligenz“ befasst. (Rn. 128 ff.) Dort wird – anschaulich durch Beispiele unterstützt – der grundlegende Unterschied zwischen „Regelbasierten Systemen“ und „Machine Learning“-Applikationen verständlich erläutert. Als Veranschaulichungsbeispiele dienen dabei für ein regelbasiertes System das Programm FLUME2000 (Rn. 140), während FLUME3000 auf einer Methode beruht, die sich an N-Gram-Sprachmodellen orientiert (Rn. 163).

6. Dass man bei einer Herleitung der geschilderten Art – gewissermaßen en passant – eine elementare Grundidee vom Programmieren mit Python und der Lesbarkeit von Python-Programmen bekommt, dürfte ein vom Autor beabsichtigter pädagogischer Nebeneffekt sein. Zugleich werden dabei auch frühere Entwicklungsschritte hin zu heutiger KI angesprochen, was zur Ausbildung eines Gespürs für Entwicklungslinien unverzichtbar ist. Das gilt zB für den Hinweis auf Weizenbaums Dialogsystem ELIZA (Rn. 134 ff.) oder später für den Blick auf Zadehs Fuzzy Logic (Rn. 252). Dadurch gewinnt die Darstellung die nötige Tiefe: Eine bloß gegenwartsbezogene Betrachtungsweise greift ohne ein Bewusstsein von dem früher bereits Gedachten oder Erreichten zu kurz. Dies gilt auch für Informatik-Entwicklungen.

7. Mit der Beschreibung der durch FLUME2000 und FLUME3000 repräsentierten Ansätze sind die Grundlagen dafür gelegt, sich verschiedenen im Kontext der Künstlichen Intelligenz im Mittelpunkt stehenden Problemen zu widmen. Dabei kristallisiert sich eine Frage als zentral heraus, die Frage nämlich, welche Handlungskonsequenzen aus der charakteristischen Eigenschaft der Opazität („Intransparenz von ‚Entscheidungsvorgängen‘ iRd Einsatzes von Systemen Künstlicher Intelligenz“) zu ziehen sind (Rn. 192).  Konkret betrachtet heißt das etwa: Wegen der Opazität des Bilderkennungsmoduls kann in concreto nicht sichergestellt werden, dass ein autonom agierendes System in der Lage ist, schützenswerte Subjekte („Katze oder Baby“) ausreichend zu unterscheiden. Woraus dann die Frage folgt: „Dürfen Unternehmen dann überhaupt Gebrauch machen von effizienten, aber ungenauen Methoden des maschinellen Lernens?“ (Rn. 191). So führt der Weg nach dem Durchgang durch den Informatik-Hintergrund wieder zurück ins Juristische. Dies veranlasst Skeptiker der Verknüpfung des Informatik-Diskurses mit dem juristischen Argumentieren hin und wieder zu dem Einwand, man könne doch die einschlägige juristische Problematik auch ohne vorherige eigene Beschäftigung mit den Informatik-Gegebenheiten auf den Punkt bringen. Bei genauerer Betrachtung verfängt dieser Einwand aber nur, wenn man Thesen aus der Informatik ohne eigenes Verständnis übernehmen würde. Will man das vermeiden, bleibt lediglich der Weg, gedanklich nachzuvollziehen, warum – um in dem zitierten Beispiel zu bleiben – Methoden des maschinellen Lernens durch Opazität gekennzeichnet sind. Natürlich kann es bei diesem Bemühen nicht um den Erwerb eines vollständigen Informatik-Detailwissens gehen, sondern „nur“ um ein prinzipielles Verstehen (vgl. anschaulich dazu „Was muss der Koch über die Kartoffel wissen?“, Rn. 430 ff.). Damit die juristischen Entscheider jedoch diese Art von Wissen erwerben können, braucht es Bücher wie das vorliegende.

8. Zusätzlich zu der methodischen Stimmigkeit, die das Buch insgesamt auszeichnet, gilt es abschließend, noch auf zwei Gesichtspunkte hinzuweisen, die Schraders Abhandlung in besonderer Weise charakterisieren. Sie ist hervorgegangen aus einem vorlesungsbegleitenden Skript zur Veranstaltung „Legal Tech“ an der Universität Bielefeld. Erfahrungsgemäß sind die Bücher besonders „gereift“, die einen längeren Praxistest in der Lehre hinter sich haben. Verbunden mit der Vorgeschichte als Skript ist aber noch eine weitere Besonderheit zu verzeichnen. Schrader bietet seine Veranstaltung für Studierende des Staatsexamensstudiengangs mit dem Studienziel der Befähigung zum Richteramt an. Mit diesem Befund verbindet sich die Frage, ob Inhalte wie die im vorliegenden Legal-Tech-Buch beschriebenen nicht schon de lege lata zum verbindlichen Studieninhalt gemacht werden sollten. Schließlich nennt etwa § 7 Abs. 2 S. 1 JAG NRW die „digitale Kompetenz“ als eine Schlüsselqualifikation (Rn. 4). Eine weitere Debatte zu diesem Thema wird unausweichlich sein und auch das Deutsche Richtergesetz (DRiG) mit einbeziehen müssen, das in § 5a Abs. 3 DRiG wenig zeitgemäß keinen Hinweis zur Digitalkompetenz enthält. (vgl. zur Kritik am DRiG Rn. 425). Jedenfalls liefert die vorliegende Abhandlung schon einmal eine Blaupause dahingehend, wie sich die im JAG NRW nicht klar konturierte „digitale Kompetenz“ begreifen lässt.

9. Damit die Lektüre eines Buchs zu einer angenehmen Erfahrung wird, bedarf es zusätzlich zum gelungenen Inhalt eines gelungenen Layouts. Für dieses Layout bei nicht einfacher Aufgabenstellung (Text, Programmcode, Abbildungen etc) verdient der Verlag Anerkennung. Was die frei zugängliche Online-Präsentation des Buchs betrifft, seien zwei Wünsche hinzugefügt. Statt der gewählten Leseprobe mit einem stark juristischen Fokus (Rn. 343-358) würde der Abschnitt A.IV. zu „Machine Learning“ und „Künstliche Intelligenz“ (Rn. 128 ff.) das Spezifikum des Buchs besser treffen. Und wenn man schon einmal beim Wünschen ist: Themen mit „Legal Tech“-Bezug kommen ohne vielfältige URL-Zitate nicht aus. Im Print verursacht das bei der Lektüre erheblichen Nachvollzugsaufwand. Deshalb sollte man der Online-Vorschau eine Liste der im Buch enthaltenen URLs beigeben.

10. Legt man das Buch nach dem Durcharbeiten (bloße Lektüre genügt nicht) aus der Hand, steht das Gesamturteil fest: Die Überlegungen zum aktuellen KI-Potential sind geprägt durch Aufgeschlossenheit für das Neue, aber auch durch eine vorsichtige Zurückhaltung gegenüber überzogenen Erwartungen. Eine solche wohltuende Balance fehlt gegenwärtig an vielen Stellen in der Euphorie grundierten KI-Debatte im Rechtswesen.

Kurzum: Wer aus der juristischen Welt kommend Orientierung auf dem Feld von Legal Tech sucht, sollte zu diesem Buch greifen, das die wesentlichen Perspektiven einladend und verständlich erschließt. 

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