RAin Katharina Kollmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäisches Medienrecht e. V. (EMR), Saarbrücken.
MMR-Aktuell2023, 01206 In einem am 25.10.2023 angenommenen Initiativbericht zeigen sich die Abgeordneten des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (Committee on the Internal Market and Consumer Protection – IMCO) des EU-Parlaments alarmiert über die suchterzeugende Gestaltung von Online-Diensten. Besonders gravierend seien die Auswirkungen dieser Suchtwirkung in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Der Ausschuss hält daher ein Einschreiten der EU-Kommission für dringend erforderlich.
Laut IMCO-Ausschuss nutzen bestimmte Plattformen und andere Technologieunternehmen psychologische Schwachstellen aus, um digitale Schnittstellen für kommerzielle Interessen so zu gestalten, dass die Häufigkeit und Dauer der Nutzerbesuche maximiert wird. Dadurch soll die Nutzung von Online-Diensten verlängert und eine Bindung an die Plattform geschaffen werden. Als Beispiele nennt der Ausschuss in seinem Bericht etwa „Endlos-Scrolling“ oder Auto-Play-Funktionen mit denen nach Ansehen eines Videos ununterbrochen das nächste startet. Dabei sei erwiesen, dass diese suchterzeugende Gestaltung auf Verbraucherseite zur Beeinträchtigung der physischen und psychischen Gesundheit sowie zu materiellen Schaden führen kann. Dies gelte insbesondere hinsichtlich Minderjähriger.
Der Ausschuss sieht trotz der Entwicklungen beim EU-Rechtsrahmen für den digitalen Bereich (u. a. durch den Digital Services Act (DSA) und das vorgeschlagene KI-Gesetz) das Problem der suchterzeugenden Gestaltung von Online-Diensten noch nicht ausreichend geregelt. Aus diesem Grund fordert der IMCO-Ausschuss die EU-Kommission auf, zu prüfen welche politischen Initiativen und ggf. Rechtsvorschriften gegen solche Ausgestaltungsmethoden von Online-Diensten in die Wege zu leiten sind. Gleichzeitig müsse die EU-Kommission u. a. die RL über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-RL), die Verbraucherrechte-RL und die RL über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen daraufhin überprüfen, ob sie ein ausreichend hohes Schutzniveau im digitalen Umfeld gewährleisten. In diesem Zusammenhang seien auch die Definitionen der Begriffe „Verbraucher“, „schutzbedürftiger Verbraucher“ und „Gewerbetreibender“ im digitalen Zeitalter neu zu bewerten. Dabei sollten besonders schutzbedürftige Gruppen wie Kinder eine intensive Berücksichtigung finden.
Ferner fordert der Ausschuss die EU-Kommission auf, für eine strenge und konsequente Durchsetzung aller bestehenden Rechtsvorschriften im Bereich der suchterzeugenden Gestaltung von Online-Diensten mit größtmöglicher Transparenz zu sorgen. Hierfür solle die EU-Kommission die zu diesem Zweck erforderlichen Leitlinien gem. Art. 25 und Art. 35 DSA erlassen. Weiterhin erwartet der Ausschuss von der EU-Kommission Initiativen zur Unterbindung besonders schädlicher Praktiken, die in anderen EU-Rechtsvorschriften noch nicht verboten sind, sowie Online-Diensten eine Verpflichtung zur fairen/neutralen Gestaltung aufzuerlegen. Als Grundlage für die Bewertung der Lauterkeit der meisten Praktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern könne dabei die UGP-Richtlinie herangezogen werden.
Nicht zuletzt regt der IMCO-Ausschuss die Einführung einer Funktion an, mit der den Verbrauchern die Möglichkeit gegeben werden soll, alle aufmerksamkeitsheischenden Funktionen von vornherein auszuschalten („Recht, nicht gestört zu werden“). Zugleich solle der Nutzer wählen können, ob er eine solche Funktion aktivieren möchte, möglicherweise mit einer beigefügten obligatorischen Warnung vor den potenziellen Gefahren solcher Funktionen. Dadurch solle den Verbrauchern eine „echte Wahl und Autonomie“ eingeräumt werden, anstatt sie mit einer „Informationsflut“ zu überlasten. Ein weiterer Vorschlag besteht darin, den Anbietern von Online-Diensten Funktionen zu untersagen, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit der Nutzer zu monopolisieren oder einer unbewussten Beeinflussung auszusetzen. Schließlich werden insbesondere für Minderjährige automatische Sperren für bestimmte Dienste nach einer gewissen Nutzungsdauer angeregt.
Der vom IMCO-Ausschuss beschlossene Bericht wird als Nächstes im November dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt. Der Ausschuss kündigt im Bericht an, bei Untätigkeit der EU-Kommission eine Initiative zu beschließen, mit der die EU-Kommission förmlich zum Erlass von Rechtsakten aufgefordert wird. Das EU-Parlament hat insoweit zwar kein eigenes Initiativrecht, die EU-Kommission müsste aber, wenn sie einer solchen Entschließung nicht durch die Vorlage eigener Vorschläge folgt, dem EU-Parlament eine Rechtfertigung für das Untätigbleiben abgeben.
Weiterführende Links
Vgl. auch Loren/Schomberg ZD-Aktuell 2022, 01036 mwN und von Walter MMR-Beil. 2022, 719.