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Editorial JA 7/2024

Von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, Universität Regensburg | Jun 17, 2024

»Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« – Vor 300 Jahren in Königsberg geboren, veränderte Immanuel Kant das Denken in allen Bereichen

Am 22.4.1724 in Königsberg geboren, über dessen engere Umgebung er zeitlebens nie hinauskommt, war der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant gleichwohl ein von »enzyklopädischer Neugier« getriebener Weltbürger, dem die Überbewertung der eigenen Kultur fremd war, wie dies gerade jetzt in Zeiten des Umwelt- und Klimaschutzes überlebenswichtig ist (näher Ottfried Höffe NZZ v. 20.4.2024). Seine akademische Karriere verlief allerdings zunächst etwas holprig; erst 1770 erhielt er zwar nicht den angestrebten Lehrstuhl für Philosophie, aber doch für Logik und Metaphysik.

Seine zahlreichen Schriften zu fast allem, was ihn beschäftigte, wie zur Erziehung als eine Anleitung zum Freiheitsgebrauch oder eine Evolutionstheorie des gesamten Kosmos, treten allerdings in den Hintergrund gegenüber seinen im fortgeschrittenen Alter erschienenen drei Büchern, die alles Denken veränderten: dem Hauptwerk die »Kritik der reinen Vernunft«, 1781, die »Kritik der praktischen Vernunft«, 1788, und die »Kritik der Urteilskraft«, 1790.

Die Aufgaben der Philosophie bestimmt Kant mit drei Fragen:

Die erste Frage »Was kann ich wissen?« behandelt er in der »Kritik der reinen Vernunft«. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Kosmos, aufgehoben werden die bisher entwickelten Beweise für das Dasein Gottes, dessen Nichtsein aber ebenso wenig bewiesen werden kann.

Die zweite Frage »Was soll ich tun?« zielt auf das allen Menschen gemeinsame Bewusstsein für Moral und führt zum »kategorischen Imperativ« als dem Begriff »der Moral unter den Bedingungen von Menschen, die nicht notwendig moralisch handeln« (Offried Höffe NZZ v. 20.4.2024).

Bei der dritten Frage »Was darf ich hoffen?« geht es um die »Voraussetzungen, um die Welt als sinnvoll denken zu können und am Weltlauf nicht zu verzweifeln« (Offried Höffe NZZ v. 20.4.2024). In seiner späten Schrift »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, 1795, welche die Charta der Vereinten Nationen wesentlich beeinflusste, wendet Kant in Form eines Friedensvertrags seine Moralphilosophie auf die Politik an, um die Frage zu beantworten, ob und wie dauerhafter Frieden zwischen den Staaten möglich wäre. Dazu müssen von der Vernunft geleitete Maximen eingehalten werden, die aus den zugrunde liegenden Begriffen entwickelt werden. Für Kant ist Frieden kein natürlicher Zustand zwischen Menschen, er muss deshalb gestiftet und abgesichert werden. Kant schreibt: »Die Vernunft vom Throne der höchsten moralischen Vernunft « verdamme den Krieg und mache den »Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht.«

Für das Strafrecht bedeutsam sind zwar nur wenige Seiten in der 1797 erschienenen Abhandlung in »Die Metaphysik der Sitten«, die es aber im Bereich der Tugendlehre mit der Formel des kategorischen Imperativs in sich haben: »Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!« (näher Kühn, Kant, 2024, S. 459 f.). Die Freiheit des Einzelnen muss notwendig durch die legitimen Interessen anderer beschränkt werden.

Das führt weiter zu der Notwendigkeit einer Strafjustiz, der Legitimität von Strafe sowie der Ausgestaltung staatlicher Strafe. Die absoluten Straftheorien (absolut, weil die Rechtfertigung der Strafe unabhängig von den möglicherweise in der Zukunft zu erwartenden Folgen gesehen wird) werden Kant und Hegel zugerechnet, denen es allein um Vergeltung auf der Basis von Sühne und Gerechtigkeit geht. Beide lehnen eine Bestrafung zu Präventionszwecken ab, damit der Mensch nicht »wie ein Hund behandelt« werde, gegen den man »den Stock« erheben müsse (Hegel).

Sowohl bei Kant wie auch bei Hegel fehlt letztlich die Begründung dafür, dass Strafe sein muss (griffig Hilgendorf/Kudlich/Valerius/Hörnle, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, § 12 Rn. 5 ff.). Kant nennt das berühmt-berüchtigte Insel-Beispiel: »Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (zB das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat, weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.« Die bei einem Tötungsdelikt zu verhängende Todesstrafe war für die Philosophie des Idealismus kein Problem. – Eine solche »absolut« rigide Position für eine völlig zweckfreie Strafe, die sich in keinster Weise für die Konsequenzen strafrechtlicher Verurteilungen interessiert, lässt ein Grundrechte anerkennender Verfassungsstaat nicht zu. Grundrechtseingriffe sind einer Rechtfertigungspflicht unterworfen (näher Hilgendorf/Kudlich/Valerius/Hörnle StrafR-HdB 1, 2019, § 12 Rn. 7 f.).

An einigen von Kant rigoros vertretenen Forderungen kann man sich also sehr wohl reiben! Und dass bei einigen Disputen Kant letztendlich vielleicht doch nicht ganz wohl war, zeigt die Diskussion mit Benjamin Constant, der Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« so verstanden hatte, dass danach Lügen auch bei Gefahr für Leib und Leben nie gerechtfertigt sein sollen, weil sie die Wahrhaftigkeit menschlicher Kommunikation und das soziale Vertrauen zerstören. Für Constant ist dagegen das Recht auf Wahrheit erst verwirkt, wenn sie anderen schade. In dem durch diesen Disput ausgelösten Essay »Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen«, 1797, hält Kant gleichwohl an seinem Paradigma fest; denn eine Lüge schade immer jemandem, wenn keinem Einzelnen, doch dann der Menschheit: »Es ist … ein heiliges unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft zu sein.«

Gelogen wird seit jeher tagtäglich und überall. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie fluten Fake News und damit einhergehend Verschwörungstheorien die Websites. In beunruhigender Weise koppelt sich in vielen Ländern ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gesellschaft von jeglicher Rationalität ab und belegt, wie wichtig die Wahrheit für unser geordnetes Zusammenleben ist. Und da kommt einem wieder Kant in den Sinn!

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