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Editorial JA 4/2022

Von Prof. Dr. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Universität des Saarlandes | Mrz 30, 2022

Ein Blankettungeheuer … extra für Sie zusammengelesen!


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss zur sektoralen Impfpflicht vom 10.2. 2022 (1 BvR 2649/21, NVwZ 2022, 319) »Bedenken« an der Ausgestaltung des § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG) geäußert, der einen »doppelten dynamischen Verweis« enthält und dabei insbesondere auf eine Internetseite verweist. Studierende dürften den Begriff des dynamischen Verweises allenfalls aus der Vorlesung »Wirtschaftsstrafrecht« kennen und vielleicht noch dunkel in Erinnerung haben, dass das irgendetwas mit »Blankettstrafnormen« zu tun hatte, die unter anderem aus dem Blickwinkel des Art. 103 II GG und des Gewaltenteilungsgrundsatzes problematisch sind. Die Ordnungswidrigkeit des § 73 IfSG enthält ein mehrstufiges Blankett, das kontinuierlich durch Exekutivakte abgeändert werden kann. Zur Veranschaulichung seiner (nicht der einzigen) Bedenken folgt eine Fassung des auf § 20a IfSG rekurrierenden § 73 Ia Nr. 7e IfSG, bei der die Normtexte der einschlägigen Bezugsnormen (§ 20a III 2, 1 und § 20a I 1 IfSG; § 2 Nr. 3 SchAusnahmV) »eingefügt« wurden:

»Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig als Leiter
1. eines Krankenhauses, einer Einrichtung für ambulantes Operieren, einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung, einer Dialyseeinrichtung, einer Tagesklinik, einer Entbindungseinrichtung, einer Behandlungs- oder Versorgungseinrichtung, die mit einer der genannten Einrichtungen vergleichbar ist, einer Arzt- oder Zahnarztpraxis, einer Praxis für sonstige humanmedizinische Heilberufe, einer Einrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, in denen medizinische Untersuchungen, Präventionsmaßnahmen oder ambulante Behandlungen durchgeführt werden, im Rettungsdienst, einem sozialpädiatrische Zentrum nach § 119 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, einem medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen nach § 119c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, einer Einrichtung der beruflichen Rehabilitation nach § 51 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch und Dienste der beruflichen Rehabilitation, einem Begutachtungs- und Prüfdienst, der auf Grund der Vorschriften des Fünften Buches Sozialgesetzbuch oder des Elften Buches Sozialgesetzbuch,
2. einer voll- oder teilstationären Einrichtung zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen oder einer vergleichbaren Einrichtung,
3. eines ambulanten Pflegediensts oder eines weiteren Unternehmens, die den in Nummer 2 genannten Einrichtungen vergleichbare Dienstleistungen im ambulanten Bereich anbietet, das Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung oder das jeweilige Unternehmen befindet, nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht unverzüglich darüber benachrichtigt, dass Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit eines Nachweises hinsichtlich des Vorliegens eines vollständigen Impfschutzes gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in deutscher, englischer, französischer, italienischer oder spanischer Sprache in verkörperter oder digitaler Form bestehen, welche Personen ab dem 16. März 2022 vorzulegen haben, die in den genannten Einrichtungen oder Unternehmen tätig werden sollen, wobei die laut Impfnachweis zugrunde liegenden Schutzimpfungen den vom Paul-Ehrlich-Institut im Benehmen mit dem Robert Koch-Institut unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft veröffentlichten Vorgaben hinsichtlich der Kriterien der verwendeten Impfstoffe, der für einen vollständigen Impfschutz erforderlichen Anzahl an Einzelimpfungen, der für einen weiterhin vollständigen Impfschutz erforderlichen Auffrischimpfungen, der Intervallzeiten, die nach einer Impfung für einen vollständigen Impfschutz abgewartet werden müssen und die höchstens zwischen Einzelimpfungen oder Auffrischimpfungen liegen dürfen, entsprechen müssen.«

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde nur eine Variante des § 73 Ia Nr. 7e IfSG »ausgeschrieben« und zudem auf eine Einbeziehung der Vorgaben des PEI, die »unter der Adresse www.pei.de/ impfstoffe/covid-19« veröffentlicht sind, verzichtet. Selbst dann passt die Norm gerade noch in ein Editorial – doch darf dies sicherlich nicht den Lackmustest für die Frage bilden, ob eine Strafnorm oder ein Bußgeldtatbestand noch den Anforderungen des Art. 103 II GG genügt. Denn gerade das vorliegende Beispiel zeigt, dass die Verteilung des Normtextes über mehrere Paragrafen unter Umständen sogar zur Lesbarkeit beitragen kann.

Das ändert aber nichts daran, dass gerade in diesem Bereich besonderes Verständnis für »Missverständnisse« bei den Normadressaten mitgebracht werden muss, zumal es sich nicht – wie für derartige nebenstrafrechtliche »Blankettungeheuer« typisch – um Normen handelt, die sich ausschließlich an Experten richten, sondern um ein Regelwerk, das jeden Einzelnen in der Bevölkerung in die Pflicht nimmt. Die eigentlichen Bedenken des BVerfG beginnen damit, dass die Norm nicht zusammengelesen werden kann, wenn man gerade keine Internetverbindung auf seinem Smartphone hat: Denn § 2 Nr. 3 SchAusnahmV, aus dem sich ergibt, was »ein Nachweis« ist, verweist hierfür auf die vom »Paul-Ehrlich-Institut … im Internet unter der Adresse www.pei.de/impfstoffe/covid-19 … veröffentlichten Vorgaben …«. Für deren Abdruck ist an dieser Stelle kein Platz mehr. Für Kritik dagegen schon: Denn jenseits der Frage der Lesbarkeit ist die Konkretisierung zentraler Bestandteile einer Verhaltensnorm auf einer Internetseite nicht nur aus dem Blickwinkel der ständigen Aktualisierbarkeit durch ein Bundesinstitut problematisch, sondern vor allem auch wegen der fehlenden Dokumentation der Gesetzeskonkretisierung. Es besteht also gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

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