OLG erklärte Auslieferung nach Rumänien für zulässig
Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl, dem ein nationaler Haftbefehl eines rumänischen Gerichts wegen des Verdachts der Begehung von Vermögens- und Urkundsdelikten in drei Fällen zugrunde liegt. Der Beschwerdeführer verbüßte wegen in Deutschland begangener Straftaten bis zum 24.09.2017 eine Freiheitsstrafe in Hamburg. Seither befindet er sich in Auslieferungshaft. Mit den angegriffenen Beschlüssen vom 03. und 19.01.2017 erklärte das Oberlandesgericht Hamburg die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig.
OLG sah keine "echte Gefahr" unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in rumänischem Strafvollzug
Es begründete dies insbesondere damit, dass nach der EuGH-Rechtsprechung klargestellt sei, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet sind. Eine Ausnahme sei nur unter außergewöhnlichen Umständen anzunehmen. Im Rahmen der vom EuGH geforderten zweistufigen Prüfung gebe es hier zwar substantiierte Anhaltspunkte für systemische Mängel im rumänischen Strafvollzug. Die zweite Voraussetzung, eine "echte Gefahr" unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Beschwerdeführer, liege jedoch nicht vor. Insbesondere hätten die rumänischen Behörden zugesichert, dass dem Beschwerdeführer ein minimaler persönlicher Raum einschließlich der Möbel von drei Quadratmetern bei Vollstreckung in einem geschlossenen Regime und von zwei Quadratmetern im halboffenen oder offenen Regime zur Verfügung stehen werde. Es sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der EU zu bedenken, dass die in Rumänien begangenen Straftaten ungesühnt blieben, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung ablehne. Auch drohe die Schaffung eines "safe haven" in Deutschland.
OLG sah Unterschreitung der Mindesthaftraumgröße durch weitere Haftaspekte kompensiert
Das OLG hielt trotz der Verurteilungen Rumäniens durch den EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK eine Gesamtbetrachtung der Haftsituation in Rumänien für angezeigt, bei der allerdings der Haftraumgröße eine wesentliche indizielle Bedeutung zukomme. Seit 2014 hätten sich die Haftbedingungen in Rumänien durchgreifend verbessert, auch wenn die Überbelegungsquote immer noch bedenklich hoch sei und die von den rumänischen Behörden zugesicherte individuelle Haftraumgröße bei alleiniger Betrachtung der Quadratmeterzahl bei einer Vollstreckung jedenfalls in einem der offenen Vollzugsregime hinter den Maßgaben des EGMR zurückzubleiben scheine. Es sei allerdings auch zu berücksichtigen, dass die zum Teil ungenügenden Platzverhältnisse in der Zelle durch sehr weitgehende Aufschlusszeiten erheblich abgemildert würden. Überdies seien die baulichen Voraussetzungen für Freigänge geschaffen worden. Ferner seien - neben der Verbesserung der baulichen Anlagen im Hinblick auf Heizung, sanitäre Anlagen und Hygiene - die Möglichkeiten für Hafturlaube, Besuchsempfang, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge verbessert worden. Der Beschwerdeführer legte gegen die OLG-Beschlüsse Verfassungsbeschwerde ein und rügte eine Verletzung der Menschenwürdegarantie.
BVerfG: Recht auf gesetzlichen Richter verletzt - Beurteilungsspielraum bei Auslegung der Vorlagepflicht unvertretbar überschritten
Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Es hat die angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen. Die OLG-Entscheidungen verletzten das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Denn das OLG habe angesichts einer unvollständigen EuGH-Rechtsprechung mit der Nichtvorlage seinen Beurteilungsspielraum bei der Auslegung der Vorlagepflicht in Art. 267 Abs. 3 AEUV in unvertretbarer Weise überschritten.
Konkrete Mindestanforderungen an Haftbedingungen und Beurteilungsmaßstäbe durch EuGH bislang nicht abschließend geklärt
Wie das BVerfG erläutert, habe der EuGH zwar in den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru (BeckRS 2016, 80575) klargestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betroffenen Person im Zielstaat führen dürfe. Daher bestehe eine Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörden, bei Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische Mängel im Strafvollzug des Zielstaats zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, die betroffene Person werde im Anschluss an ihre Übergabe der echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein. Der EuGH habe jedoch die hier entscheidungserhebliche Frage, welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 4 der EU-Grundrechtecharta konkret abzuleiten und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten seien, bisher nicht abschließend geklärt.
OLG nimmt aber ohne Begründung eindeutig oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage an
Laut BVerfG stellt das OLG in den angegriffenen Entscheidungen grundrechtliche, unionsrechtliche und konventionsrechtliche Prüfungsmaßstäbe nebeneinander, ohne einen Zusammenhang mit den spezifischen Anforderungen von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta herzustellen. Ob und warum die sich aus Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ergebenden Mindestanforderungen an Haftbedingungen durch den EuGH abschließend geklärt oder so eindeutig seien, dass es einer Klärung durch den EuGH nicht bedarf, werde nicht begründet.
EGMR-Rechtsprechung für Beurteilung der Haftbedingungen nur selektiv herangezogen
Das OLG habe sich zwar an die vom EuGH vorgegebene Struktur einer zweistufigen Prüfung gehalten. Hinsichtlich der vorliegend auf der zweiten Stufe zu prüfenden echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers im Sinn von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta hat es laut BVerfG auch erkannt, dass die von Rumänien im Fall des Beschwerdeführers abgegebenen Zusicherungen hinter den räumlichen Anforderungen, die der EGMR an einen gemäß Art. 3 EMRK konventionsrechtskonformen Strafvollzug stelle, zurückblieben. Eine unionsrechtlich relevante Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die mangelhaften Haftbedingungen habe das OLG dennoch verneint. Dabei habe das OLG die EGMR-Rechtsprechung lediglich selektiv zugrunde gelegt und ihr im Rahmen einer "Gesamtbetrachtung" weitere Gesichtspunkte hinzugefügt, die seiner Ansicht nach geeignet seien, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers zu widerlegen. Insoweit sei die EGMR-Rechtsprechung aber nicht eindeutig, moniert das BVerfG.
EGMR-Rechtsprechung zur Haftraumgröße
Das BVerfG erläutert, dass nach der EGMR-Rechtsprechung aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von drei Quadratmetern pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum die starke Vermutung einer Verletzung von Art. 3 EMRK folge. Diese könne normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich lediglich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums handelt, ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums gewährleistet seien und die Strafe in einer geeigneten Haftanstalt vollzogen werde, wobei es keine die Haft erschwerenden Bedingungen geben dürfe. Es deute vieles darauf hin, dass die drei genannten Faktoren kumulativ vorliegen müssen, um das Unterschreiten eines persönlichen Raums von drei Quadratmetern aufzuwiegen.
Eignung mehrerer vom EGMR anerkannter Kompensationsfaktoren zur Vermutungswiderlegung bei Haftraumenge unklar
Das BVerfG beanstandet, dass das OLG schon nicht problematisiere, ob die durch Rumänien zugesicherten zwei Quadratmeter persönlicher Raum, die im offenen und halboffenen Regime in einem mehrfachbelegten Haftraum auf den Beschwerdeführer entfallen würden, noch eine unerhebliche (sowie kurze und gelegentliche) Reduzierung des persönlichen Raums darstellen würden. Darüber hinaus ziehe das OLG im Rahmen einer Gesamtbetrachtung mit dem Verweis auf verbesserte Heizungsanlagen, sanitäre Anlagen und Hygienebedingungen Umstände heran, die vom EGMR zwar als kompensatorische Faktoren angesehen würden, von denen aber unklar sei, inwieweit sie nach seiner neueren Rechtsprechung die starke Vermutung eines Konventionsverstoßes durch räumliche Beengtheit entkräften könnten. Dies gelte insbesondere mit Blick darauf, dass Mängel der sanitären und Heizungsanlagen sowie der Hygienebedingungen selbst dann zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen könnten, wenn mehr als drei Quadratmeter persönlicher Raum auf einen Gefangenen entfallen.
Auch bislang vom EGMR nicht berücksichtigte Gesichtspunkte herangezogen
Darüber hinaus stellt das OLG dem BVerfG zufolge auf Umstände (verbesserte Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge) ab, die in der EGMR-Rechtsprechung für das Entkräften der Vermutung einer Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund zu beengter räumlicher Verhältnisse bisher nicht explizit herangezogen worden seien. Über die EGMR-Rechtsprechung hinaus beziehe das OLG schließlich auch Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der EU sowie die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die potentielle Straflosigkeit mutmaßlicher Straftäter bei Nichtauslieferung und die Schaffung eines "safe haven" als entscheidungserhebliche Belange in die Prüfung ein. Einige dieser Gesichtspunkte seien in der EuGH-Rechtsprechung zwar im Rahmen der Auslegung der mitgliedstaatlichen Pflichten, die aus dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl folgten, herangezogen worden. Die Frage, ob sie für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta beziehungsweise Art. 3 EMRK angesichts deren absoluten Charakters überhaupt eine Rolle spielen könnten, sei bisher aber weder in der Rechtsprechung des EuGH noch des EGMR beantwortet worden.