Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört natürlich auch die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen über die eigene Lebensgestaltung zu treffen. Während der eine gern häkelt, stürzt die andere sich gern mit Fallschirmen vom Himmel.
Erst kürzlich entschied das LAG Schleswig-Holstein, dass eine Pflegehilfskraft, die sich ein Tattoo hatte stechen lassen, das sich danach entzündete, das Risiko selbst tragen muss. Ihre Arbeitgeberin bekam Recht, sie musste keine Entgeltfortzahlung leisten. Das Gericht war der Ansicht, wer freiwillig in ein Tattoo einwillige, verstoße grob gegen das eigene Interesse, gesund zu bleiben. Die Arbeitnehmerin habe eine nicht völlig fernliegende Komplikation billigend in Kauf genommen, meinten die Richterinnen und Richter in Kiel. In Literatur und Presse scheint das Urteil bislang auf Zustimmung zu stoßen. Zeit, genauer hinzusehen.
Im Ungleichgewicht: Krank wird nur der Arbeitnehmer
Das vertragliche Verhältnis im Arbeitsrecht ist geprägt von einem strukturellen Ungleichgewicht der Parteien zulasten des Arbeitnehmers. Ihm ist nun einmal eigen, dass er seine menschliche Arbeitskraft schuldet, während der Arbeitgeber oft nur Arbeitsplatz, Arbeitsmittel und Kapital zur Verfügung stellen muss. Das Erkrankungsrisiko – und damit das Risiko, dass mangels Arbeitsleistung auch keine Gegenleistung mehr geschuldet ist – liegt ausschließlich beim abhängig Beschäftigten. Dieser grundrechtliche Einschlag macht das arbeitsvertragliche Verhältnis spannend und den Arbeitnehmer schutzwürdig.
Ihn - oder sie - vor dem Verlust seiner wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit zu schützen, ist Ausprägung des Sozialstaatsprinzips. Trotzdem soll er nicht sofort Leistungen der von der Allgemeinheit finanzierten Krankenkassen in Anspruch nehmen können, sondern der Arbeitgeber ist vorleistungspflichtig. Schließlich ist er es, der die Entscheidung trifft, einen Menschen einzustellen, und somit das Risiko eines Ausfalls eingeht. Nicht einstehen muss der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 EFZG nur dann, wenn die Arbeitnehmerin ihre Arbeitsunfähigkeit verschuldet hat.
Was ein solches "Selbstverschulden" des Arbeitnehmers ist, überlässt der Gesetzgeber der Auslegung durch Gerichte und Literatur. Das BAG nimmt an, schuldhaft handle der Arbeitnehmer nur, wenn er in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt.
Zwischen Rauchen und Extremsportarten
Eigenes Verschulden in diesem Sinne muss man restriktiv auslegen, es kann nur dann angenommen werden, wenn eine grobe Vernachlässigung der Gesundheit vorliegt. Diese Grenze ist erkennbar fließend und schwer zu greifen. Jahrelanger Nikotinkonsum, der irgendwann weit in der Zukunft womöglich zu gesundheitlichen Komplikationen führt, wird natürlich nicht erfasst - so weit, so klar.
Auf der anderen Seite der Skala findet sich als Paradebeispiel für ein Selbstverschulden die Ausübung sogenannter Extremsportarten. Wer sie betreibt, geht auch bei sorgfältiger Beachtung aller Vorgaben ein so hohes Verletzungsrisiko ein, dass Gerichte und Literatur nicht mehr von einem sportlichen Verlauf ausgehen, sondern davon, dass sich durch ein verantwortungsloses Verhalten ein unkalkulierbares Risiko realisiert. Solche Sportarten sind allerdings kaum denkbar: Bisher haben Gerichte selbst im Drachenfliegen und Boxen keine Extremsportarten in diesem Sinne gesehen.
Hundebiss, Wutausbruch, Flucht vor dem Ehekrach
Ebenfalls offensichtlich ist, dass die Voraussehbarkeit allein nicht ausreichen kann. Wer nicht jede herbstliche Fahrt mit einer Bahn- oder Buslinie zum selbstverschuldeten Verhalten erklären will – sie könnte schließlich zu einem Schnupfen führen -, kann nicht an eine moralische Pönalisierung von privatem Verhalten anknüpfen, sondern muss eine drohende Verletzung verlangen: Abstrakte Gefahren sind allgemeines Lebensrisiko. Konkret drohende Verletzungen, die sehenden Auges herausgefordert werden, sind selbstverschuldet.
Nicht selbstverschuldet soll nach der Rechtsprechung zum Beispiel ein rettender Eingriff sein, um den eigenen Hund aus einer Keilerei zu retten. Auch der Verstoß gegen ein Nebentätigkeitsverbot soll für sich betrachtet nicht reichen, um die Entgeltfortzahlung zu streichen. 2012 sah sich sogar der Gesetzgeber in der Pflicht und regelte, dass der Arbeitgeber Krankheitszeiten nach einer Lebendorganspende trägt; 2015 erweiterte er das auf Blut- und Plasmaspenden (§ 3a EFZG).
Selbstverschuldet sind hingegen Handprellungen aufgrund eines Ausrasters während der Arbeitszeit, ein Hechtsprung über die Balkonbrüstung, um einen Ehestreit zu beenden, die Teilnahme am Straßenverkehr mit einem nicht verkehrstüchtigen Fahrzeug oder unter dem rechtswidrigen Einfluss von Alkohol oder Rauschmitteln.
Auch Arbeitsunfähigkeit aufgrund künstlicher Befruchtungsmaßnahmen sieht das BAG in der Regel als verschuldet an. Der Kinderwunsch ist nach Auffassung des Gerichts nicht im Eigeninteresse i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG, selbst wenn die unfreiwillige Kinderlosigkeit häufig als eine schwere Last erlebt wird. Was dabei untergeht: Zum "Interesse" des Arbeitnehmers muss mittelbar auch das Recht auf Familiengründung nach Art. 6 Abs. 1 GG gehören.
Anders sieht es bei Komplikationen durch medizinisch nicht intendierte Schönheitsoperationen aus, die ebenfalls als selbst verschuldet gelten und für deren Folgen der Arbeitgeber keine Entgeltfortzahlung leisten muss: Solche Eingriffe sind oft deutlich schwerwiegender und werden vermehrt in Narkose durchgeführt. Ebenso scheint es keine gleichrangige gesellschaftliche Akzeptanz wie beim Tattoo zu geben.
35% der Deutschen sind tätowiert
Denn im Tattoo-Fall scheint es sachgerecht, die differenzierten Regelungen über Sportarten zum Maßstab zu nehmen, die an sich gesellschaftlich akzeptiert sind und dank Spiel- und Verhaltensregeln eher eine abstrakte Verletzungsgefahr beinhalten. Verstößt der Arbeitnehmer grob und leichtsinnig gegen diese Regeln, ist regelmäßig von einem Verschulden gegen sich selbst auszugehen: Mutwillig wird die Gefährdung nicht durch die Sportart selbst, sondern durch die Regelmissachtung. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer sich nun beim Fußball verletzt, ohne Helm Motorrad fährt oder Sicherheitsrichtlinien beim Drachenfliegen missachtet.
Um das Risiko und die soziale Akzeptanz zu beurteilen, muss man sich zunächst Zahlen und Fakten aus der Gesellschaft anschauen. Nur die Sicht der Gesellschaft auf ein Verhalten lässt eine objektive Beurteilung zu, ob dieses in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt.
Bei Tätowierten handelt es sich weder um eine Minderheit noch um eine Randgruppe. Vielmehr haben sich 35 % aller erwachsenen Deutschen nach einer Umfrage des Playboys aus dem Jahr 2023 – also ca. 19 Millionen Menschen – mindestens einmal unter die Nadel gelegt (LINK). Die Gesellschaft geht also weder von einem unvernünftigen noch von einem gefährlichen Verhalten aus.
Nicht jede Entzündung macht arbeitsunfähig
Die von der betroffenen Arbeitnehmerin selbst vorgelegte und vom LAG Schleswig-Holstein übernommene Annahme, dass es in 2% bis 5% aller Eingriffe zu Entzündungen kommt, mag zutreffen. Entzündungen unterscheiden sich jedoch in Art und Ausprägung erheblich, die Spannbreite kann von einer leichten allergischen Reaktion bis hin zu einer schweren Infektion reichen. Ein direkter Rückschluss von einer Entzündung auf eine Arbeitsunfähigkeit verbietet sich somit. Die tatsächliche Anzahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle, die kausal auf eine Tätowierung zurückgehen, dürfte weit unter den Entzündungszahlen von 2 bis 5% liegen. Darauf geht das Urteil aus Schleswig-Holstein aber mit keinem Wort ein – und geht damit insoweit von falschen Zahlen aus.
Doch selbst nach den Zahlen, die die Kieler Richterinnen und Richter zugrunde gelegt haben, zeigt sich bei objektiver Betrachtung, dass die Verwirklichung des Risikos eher dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen ist. In die Abwägung müssen - neben dem reinen Gesundheitsrisiko - die gesellschaftliche Akzeptanz des Verhaltens, das Infektionsrisiko, aber auch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit einfließen. Wer sich tätowieren lässt, nimmt gerade nicht mutwillig gegen die "eigenen Interessen" ein konkretes Risiko in Kauf.
Auf die Umstände kommt’s an
Eine Generalisierung, dass jeder Arbeitnehmer, der sich ein Tattoo stechen lässt, in gleichem Maße eine Arbeitsunfähigkeit in Kauf nehmen würde, ist völlig lebensfremd. Vielmehr lässt eine Vielzahl von Indizien Rückschlüsse darauf zu, wie viel Risiko der Arbeitnehmer eingegangen ist.
Das fängt an bei der Auswahl der Tätowiererin, hinsichtlich Qualifikation und Erfahrung mag es Unterschiede geben. Es geht weiter bei der Örtlichkeit, vor allem bezogen auf die Hygienebedingungen. Ein seriöses Studio reduziert das Infektionsrisiko, während ein Privatkeller oder ein Festival-Strand es erhöht. Zudem mag eine Entzündung selbstverschuldet sein, wenn die Tätowiererin importierte Billigfarben verwendet, nicht jedoch bei zugelassenen und zertifizierten Tattoo-Farben.
Auch die Größe und Platzierung des Tattoos sowie die Aufteilung in mehrere Sitzungen können das Risiko einer Arbeitsunfähigkeit beeinflussen. Berücksichtigt ein Arbeitnehmer diese Faktoren, minimiert er eine mögliche selbstverschuldete Arbeitsunfähigkeit. Entstehen dennoch Entzündungen, realisiert sich dann nur das allgemeine Lebensrisiko. Jede andere Auslegung würde unverhältnismäßig in die freie Entfaltung der Persönlichkeit eingreifen, da der Arbeitnehmer bei seiner individuellen Entscheidung größtmögliche Vorsicht hat walten lassen - auch im Interesse seines Arbeitgebers.
Auch die vom LAG Schleswig-Holstein gezogene Parallele zu § 52 Abs. 2 SGB V trägt nicht. Nach der Vorschrift müssen gesetzliche Krankenkassen bei Komplikationen in Folge von Tätowierungen die Versicherten an den Kosten beteiligten. Doch zum einen lässt sich die durch die Norm geschützte Solidargemeinschaft aller Versicherten nicht mit einer abhängigen Arbeitnehmerstellung vergleichen. Zum anderen zwingt diese Norm gerade zu einer nach dem Grad des Verschuldens differenzierten Inanspruchnahme, indem sie eine Beteiligung "in angemessener Höhe" vorsieht.
Schlussendlich ist die juristische Bewertung "Tattoo gleich Verschulden" zu eindimensional, berücksichtigt nicht ausreichend die individuelle Lebensentscheidung von Millionen von Menschen und trägt dem tatsächlichen Bild der Gesellschaft nicht genügend Rechnung.
Maximilian Witzel ist Rechtsanwalt in Düsseldorf und auf Arbeitsrecht spezialisiert. Er berät und vertritt ausschließlich Betriebsräte, Gewerkschaften, sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, veröffentlicht regelmäßig zu aktuellen Fragen des Arbeitsrechts und ist selbst nicht tätowiert.