beck-aktuell: Anfang April ist das Justizstandortstärkungsgesetz in Kraft getreten. Im vergangenen Jahr haben Sie sich in unserem Podcast Gerechtigkeit & Loseblatt optimistisch geäußert, dass der Justizstandort Deutschland dadurch tatsächlich gestärkt werden kann.
Peter Bert: Der Bundesgesetzgeber war der Meinung, dass den deutschen Gerichten gerade die großen und komplizierten wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten mit hohen Streitwerten abhandenkommen, weil diese entweder ins Ausland gehen oder in die Schiedsgerichtsbarkeit. Man wollte diese Streitigkeiten für die staatliche Gerichtsbarkeit zurückgewinnen. In den Verfahren, bei denen sich die Parteien dafür entscheiden, wird Englisch als Gerichtssprache zur gleichwertigen Alternative zu Deutsch.
beck-aktuell: Außerdem sollen in den jetzt möglichen Commercial Courts hochspezialisierte Richterinnen und Richter sitzen, Geschäftsgeheimnisse sollen besser geschützt werden und Verfahrenserleichterungen wie zum Beispiel ein Organisationstermin sind vorgesehen. Sie haben aber nun in allen Bundesländern nach der Umsetzung gefragt – und die ist von dem, was der Bundesgesetzgeber sich vorgestellt hat, offenbar relativ weit entfernt …
Bert: Der Gesetzgeber hat im GVG Ermächtigungsnormen für die Bundesländer geschaffen. Diese können pro Bundesland einen Commercial Court einrichten und dann noch spezialisierte Landgerichte als Commercial Chambers ausstatten.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Ab einem Streitwert von 500.000 Euro können Kläger gleich zum Oberlandesgericht als erste Instanz gehen, danach gibt es eine zulassungsfreie Revision zum BGH. Unter 500.000 Euro kann man eine Commercial Chamber am Landgericht anrufen, die Berufung führt zum Commercial Court, eine Revision zum BGH gibt es dann nur unter den ganz normalen Voraussetzungen.
In der Regierungsbegründung heißt es ausdrücklich, es gelte ein inflationäres Entstehen von Commercial Courts und eine Zersplitterung der Commercial Courts-Architektur zu vermeiden. Deswegen hat der Bundesgesetzgeber den Ländern die Möglichkeit gegeben, bundeslandübergreifend Zuständigkeiten zu begründen und das ziemlich ausdrücklich mit der Hoffnung verbunden, es möge bundesweit etwa fünf Commercial Courts geben, die sich dann absprechen und spezialisieren. Der Bundesgesetzgeber ging eigentlich davon aus, dass Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg an den Start gehen würden.
"Es hat keine Absprachen zwischen den Ländern gegeben"
beck-aktuell: Was ergibt der Realitätscheck nun, da das Gesetz in Kraft getreten ist?
Bert: Absprachen zwischen den Bundesländern hat es nicht gegeben. Es bestehen auch keine länderübergreifenden Zuständigkeitsvereinbarungen. Dafür gibt es momentan acht Commercial Courts, in jedem zweiten Bundesland eins.
Bislang haben sich – von Norden nach Süden – gemeldet: Hamburg, Bremen - die erste kleine Überraschung – und Berlin, das man auch nicht unbedingt auf dem Schirm hatte. Außerdem soll es Commercial Courts geben in Niedersachsen – dort in Celle - , Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern. Und dem Vernehmen nach will zum Jahresende auch noch Sachsen in den illustren Kreis treten, der gar nicht mehr so illuster ist.
beck-aktuell: Und über diesen jetzt schon sehr stark angewachsenen Kreis der Länder hinaus gibt es, wie Sie herausgefunden haben, nun auch noch eine Zersplitterung in Regionen.
Bert: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben jeweils drei OLGs. Diese haben sich dafür entschieden, in jedem OLG-Bezirk auch eine Commercial Chamber einzurichten. In Niedersachsen gibt es daher Commercial Chambers an den Landgerichten in Hannover, Braunschweig und in Oldenburg. In NRW ist der Commercial Court beim Oberlandesgericht Düsseldorf, aber Commercial Chambers gibt es nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Köln, Bielefeld und Essen.
"In NRW und Niedersachsen geht manche Berufung zum normalen OLG"
beck-aktuell: Inwiefern ist das ein Problem?
Bert: In diesen Ländern mit mehr als einem OLG führt die Berufung dann nicht zentral zu dem einen Commercial Court, sondern zum jeweiligen regionalen Oberlandesgericht. Dann gehen die Rechtsmittel eben nach Hamm, Köln oder Düsseldorf.
beck-aktuell: Nachdem man also erstinstanzlich auf Englisch und mit mehr Geschäftsgeheimnisschutz vor der spezialisierten Landgerichtskammer verhandelt hat, geht es dann in der zweiten Instanz zum ganz normalen OLG, obwohl es dort einen Commercial Court gibt?
Bert: Das kann passieren, ja. Und zusätzlich zu diesem regionalen Aspekt gibt es auch noch ganz unterschiedliche Modelle.
Wir haben zum einen das Modell der wirklich spezialisierten Commercial Courts. So macht Berlin nur Bau- und Architektenrecht, Bremen erklärt sich für zuständig für Schifffahrtsrecht, Transportrecht, Wasserstoffrecht und Luft- und Weltraumrecht. In Stuttgart gibt es Gesellschaftsrecht und M&A und dem Vernehmen nach wird auch Bayern mit einem spezialisierten Zuschnitt an den Start gehen.
beck-aktuell: Aber so hat der Bundesgesetzgeber sich das ja auch vorgestellt, oder nicht?
Bert: Mehr oder weniger ja – aber in der Summe sollte alles abgedeckt werden. Nun gibt es mangels Absprachen daneben das breit aufgestellte Modell: In Niedersachsen, NRW, Hamburg und Hessen decken die Commercial Courts grundsätzlich die gesamte vom GVG eröffnete Palette an Rechtsgebieten ab.
Und dann gibt es noch regionale Modifikationen. Es gibt Bundesländer, die haben sich dafür entschieden, nur einen Commercial Court einzurichten, das gilt für Bremen und aller Voraussicht nach auch für Bayern. Dort soll es also zwar einen Commercial Court geben, aber keine erstinstanzliche Commercial Chamber.
Und dann gibt es Bundesländer, die haben für die Commercial Chambers nochmal eigene Zuständigkeitsstreitwerte eingeführt – zum Beispiel 100.000 Euro in Niedersachsen.
"Da ist die altbewährte Schiedsklausel einfacher und risikoloser"
beck-aktuell: Vor dem Hintergrund einer derart zersplitterten Landschaft: Wie beraten Sie Ihre Mandanten, wenn es darum geht, wo Rechtsstreitigkeiten ausgefochten werden sollen?
Bert: Man kommt ja grundsätzlich nur zum Commercial Court kraft ausdrücklicher oder stillschweigender Zuständigkeitsvereinbarung. Aber wenn ich als Kautelarjurist jetzt eine Gerichtsstandsvereinbarung entwerfen will, dann stehe ich in der Tat vor der Frage: Soll ich des Wasserstoffrechts wegen nach Bremen gehen, auch auf die Gefahr hin, dass ich die 500.000 Euro nicht erreiche? Denn dort gibt es ja keine korrespondierende erste Instanz.
Die Frage stellt sich auch umgekehrt - wenn ich eigentlich die Commercial Chamber in Bielefeld ganz sexy finde, aber es dort keine Berufung zu einem Commercial Court gibt, sondern die Berufung dann zum – nicht gesondert spezialisierten – OLG Hamm führen würde.
Mangels Zuständigkeitsvereinbarung unter den Ländern müssen Berater jetzt richtig aufpassen. Sie müssen sich mit potenziell acht oder bald womöglich neun verschiedenen Landesverordnungen befassen, um eine passgenaue Gerichtsstandsklausel entwerfen zu können. Da ist die altbewährte Schiedsklausel deutlich einfacher und auch risikoloser.
Die Justiz hat ein Premium-Produkt entworfen, ihrer eigenen Auffassung nach, und richtig gemacht könnte es das auch sein. Aber den Vertrieb, den sourct sie an die Rechtsanwaltschaft aus. Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte müssen sich jetzt überlegen, ob sie das ihren Mandanten verkaufen können, gerade auch in einem Cross-Border-Kontext an ausländische Vertragspartner. Es gibt jetzt doch ein paar Hürden mehr, als es ideal wäre und als es, glaube ich, auch der Gesetzgeber sich gedacht hat.
"Baden-Württemberg kann auch Commercial Court"
beck-aktuell: Gibt es denn auch ein gutes Beispiel?
Bert: Das überzeugendste Konzept aus meiner subjektiven Sicht ist das in Baden-Württemberg. Die können bekanntlich alles außer Hochdeutsch, also können sie auch Commercial Court. Die baden-württembergische Justiz hatte ja schon in Stuttgart einen Commercial Court alter Prägung, auf dieser Erfahrung wird dort aufgebaut, mit einem ziemlich einfachen und benutzerfreundlichen Konzept.
Die Stuttgarter stellen eine Musterklausel zur Verfügung, der Commercial Court beim OLG Stuttgart ist für ganz Baden-Württemberg zuständig, die Commercial Chamber sind beim LG Stuttgart angesiedelt.
Zudem gibt es eine klare Spezialisierung, Stuttgart macht Gesellschaftsrecht. Ein Senat macht Personengesellschaften, ein anderer Kapitalgesellschaften und eine Zuständigkeit für M&A wird auch noch angeboten. Das kommt der Idealvorstellung des Gesetzgebers, so wie ich sie verstanden habe, relativ nahe.
beck-aktuell: Das Gesetz ist seit einigen Wochen in Kraft, sind denn die Commercial Courts auch alle wirklich da und einsatzbereit?
Bert: Hessen und Bayern sind noch nicht so weit, die beiden Länder haben das für den Sommer angekündigt, Sachsen für das Jahresende. Alle anderen Länder haben in der ersten Aprilwoche die jeweiligen Verordnungen erlassen und sind zumindest auf dem Papier startklar.
"Dann wird es eben wieder die DIS oder der ICC"
beck-aktuell: Vor dem Hintergrund des sich nun zeigenden zersplitterten Bildes: Würden Sie Ihren Mandanten dazu raten, für den Streitfall eine Zuständigkeit eines Commercial Courts zu vereinbaren?
Bert: Sie kriegen die klassische Juristenantwort: Das kommt drauf an. Beispielsweise in M&A-Verträgen könnte ich mir gut vorstellen, Stuttgart zu wählen. Vielleicht überzeugt die Spezialisierung auch manche Unternehmen davon, die Commercial Courts oder Chambers anzurufen. In NRW steckt hinter der örtlichen Aufteilung auch ein inhaltliches Spezialisierungskonzept: Düsseldorf ist zuständig für Gesellschaftsrecht, Köln für IT, Bielefeld und Essen für erneuerbare Energien. Und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man sich dann in der IT-Branche für Köln entscheidet, zumal für bestimmte Fälle der dortige Zuständigkeitsstreitwert von 100.000 Euro sicherlich auch kein Ausschlusskriterium sein muss.
Wo die Parteien die Spezialisierung und die Serviceorientierung der Commercial Courts nutzen wollen, könnten zumindest deutsch-deutsche Rechtsstreitigkeiten erstmal hingehen. Aber für Cross-Border-Angelegenheiten sind die neuen Commercial Courts aus meiner Sicht zu kompliziert, zu schwer zu verkaufen und mit viel zu vielen Unwägbarkeiten belastet.
beck-aktuell: Vielen Dank für das Gespräch
Peter Bert ist Rechtsanwalt und Partner im Bereich Litigation Dispute Resolution bei Rimon Falkenfort. Er ist außerdem selbst als Schiedsrichter in nationalen und internationalen Schiedsverfahren tätig, Mitglied des Gesetzgebungsausschusses Zivilprozessrecht des Deutschen Anwaltsvereins und einer der Herausgeber des ZPO-Blogs.
Die Fragen stellte Pia Lorenz. Das Interview basiert auf einem Gespräch in der aktuellen Folge 50 von Gerechtigkeit und Loseblatt, dem Podcast von beck-aktuell und NJW.