Rea­li­tätscheck Com­mer­ci­al Courts: "Zu kom­pli­ziert, zu schwer zu ver­kau­fen, zu viele Un­wäg­bar­kei­ten"
© Rimôn Falkenfort

Noch 2024 war Peter Bert op­ti­mis­tisch, dass der Jus­tiz­stand­ort Deutsch­land tat­säch­lich ge­stärkt wer­den könn­te. Nun hat der ZPO-Ex­per­te bun­des­weit nach­ge­fragt – und eine völ­lig zer­split­ter­te Land­schaft vor­ge­fun­den, von der Zu­stän­dig­keit über die Streit­wer­te bis zum Rechts­weg. Mit einer Aus­nah­me.

beck-ak­tu­ell: An­fang April ist das Jus­tiz­stand­ort­stär­kungs­ge­setz in Kraft ge­tre­ten. Im ver­gan­ge­nen Jahr haben Sie sich in un­se­rem Pod­cast Ge­rech­tig­keit & Lo­se­blatt op­ti­mis­tisch ge­äu­ßert, dass der Jus­tiz­stand­ort Deutsch­land da­durch tat­säch­lich ge­stärkt wer­den kann.

Peter Bert: Der Bun­des­ge­setz­ge­ber war der Mei­nung, dass den deut­schen Ge­rich­ten ge­ra­de die gro­ßen und kom­pli­zier­ten wirt­schafts­recht­li­chen Strei­tig­kei­ten mit hohen Streit­wer­ten ab­han­den­kom­men, weil diese ent­we­der ins Aus­land gehen oder in die Schieds­ge­richts­bar­keit. Man woll­te diese Strei­tig­kei­ten für die staat­li­che Ge­richts­bar­keit zu­rück­ge­win­nen. In den Ver­fah­ren, bei denen sich die Par­tei­en dafür ent­schei­den, wird Eng­lisch als Ge­richts­spra­che zur gleich­wer­ti­gen Al­ter­na­ti­ve zu Deutsch.

beck-ak­tu­ell: Au­ßer­dem sol­len in den jetzt mög­li­chen Com­mer­ci­al Courts hoch­spe­zia­li­sier­te Rich­te­rin­nen und Rich­ter sit­zen, Ge­schäfts­ge­heim­nis­se sol­len bes­ser ge­schützt wer­den und Ver­fah­ren­s­er­leich­te­run­gen wie zum Bei­spiel ein Or­ga­ni­sa­ti­ons­ter­min sind vor­ge­se­hen. Sie haben aber nun in allen Bun­des­län­dern nach der Um­set­zung ge­fragt – und die ist von dem, was der Bun­des­ge­setz­ge­ber sich vor­ge­stellt hat, of­fen­bar re­la­tiv weit ent­fernt …

Bert: Der Ge­setz­ge­ber hat im GVG Er­mäch­ti­gungs­nor­men für die Bun­des­län­der ge­schaf­fen. Diese kön­nen pro Bun­des­land einen Com­mer­ci­al Court ein­rich­ten und dann noch spe­zia­li­sier­te Land­ge­rich­te als Com­mer­ci­al Cham­bers aus­stat­ten.

Es gibt zwei Mög­lich­kei­ten. Ab einem Streit­wert von 500.000 Euro kön­nen Klä­ger gleich zum Ober­lan­des­ge­richt als erste In­stanz gehen, da­nach gibt es eine zu­las­sungs­freie Re­vi­si­on zum BGH. Unter 500.000 Euro kann man eine Com­mer­ci­al Cham­ber am Land­ge­richt an­ru­fen, die Be­ru­fung führt zum Com­mer­ci­al Court, eine Re­vi­si­on zum BGH gibt es dann nur unter den ganz nor­ma­len Vor­aus­set­zun­gen.

In der Re­gie­rungs­be­grün­dung heißt es aus­drück­lich, es gelte ein in­fla­tio­nä­res Ent­ste­hen von Com­mer­ci­al Courts und eine Zer­split­te­rung der Com­mer­ci­al Courts-Ar­chi­tek­tur zu ver­mei­den. Des­we­gen hat der Bun­des­ge­setz­ge­ber den Län­dern die Mög­lich­keit ge­ge­ben, bun­des­land­über­grei­fend Zu­stän­dig­kei­ten zu be­grün­den und das ziem­lich aus­drück­lich mit der Hoff­nung ver­bun­den, es möge bun­des­weit etwa fünf Com­mer­ci­al Courts geben, die sich dann ab­spre­chen und spe­zia­li­sie­ren. Der Bun­des­ge­setz­ge­ber ging ei­gent­lich davon aus, dass Ham­burg, Nord­rhein-West­fa­len, Hes­sen, Bay­ern und Baden-Würt­tem­berg an den Start gehen wür­den.

"Es hat keine Ab­spra­chen zwi­schen den Län­dern ge­ge­ben"

beck-ak­tu­ell: Was er­gibt der Rea­li­tätscheck nun, da das Ge­setz in Kraft ge­tre­ten ist?

Bert: Ab­spra­chen zwi­schen den Bun­des­län­dern hat es nicht ge­ge­ben. Es be­stehen auch keine län­der­über­grei­fen­den Zu­stän­dig­keits­ver­ein­ba­run­gen. Dafür gibt es mo­men­tan acht Com­mer­ci­al Courts, in jedem zwei­ten Bun­des­land eins.

Bis­lang haben sich – von Nor­den nach Süden – ge­mel­det: Ham­burg, Bre­men - die erste klei­ne Über­ra­schung – und Ber­lin, das man auch nicht un­be­dingt auf dem Schirm hatte. Au­ßer­dem soll es Com­mer­ci­al Courts geben in Nie­der­sach­sen – dort in Celle - , Nord­rhein-West­fa­len, Hes­sen, Baden-Würt­tem­berg und Bay­ern. Und dem Ver­neh­men nach will zum Jah­res­en­de auch noch Sach­sen in den il­lus­tren Kreis tre­ten, der gar nicht mehr so il­lus­ter ist.

beck-ak­tu­ell: Und über die­sen jetzt schon sehr stark an­ge­wach­se­nen Kreis der Län­der hin­aus gibt es, wie Sie her­aus­ge­fun­den haben, nun auch noch eine Zer­split­te­rung in Re­gio­nen.

Bert: Nord­rhein-West­fa­len und Nie­der­sach­sen haben je­weils drei OLGs. Diese haben sich dafür ent­schie­den, in jedem OLG-Be­zirk auch eine Com­mer­ci­al Cham­ber ein­zu­rich­ten. In Nie­der­sach­sen gibt es daher Com­mer­ci­al Cham­bers an den Land­ge­rich­ten in Han­no­ver, Braun­schweig und in Ol­den­burg. In NRW ist der Com­mer­ci­al Court beim Ober­lan­des­ge­richt Düs­sel­dorf, aber Com­mer­ci­al Cham­bers gibt es nicht nur in Düs­sel­dorf, son­dern auch in Köln, Bie­le­feld und Essen.

"In NRW und Nie­der­sach­sen geht man­che Be­ru­fung zum nor­ma­len OLG"

beck-ak­tu­ell: In­wie­fern ist das ein Pro­blem?

Bert: In die­sen Län­dern mit mehr als einem OLG führt die Be­ru­fung dann nicht zen­tral zu dem einen Com­mer­ci­al Court, son­dern zum je­wei­li­gen re­gio­na­len Ober­lan­des­ge­richt. Dann gehen die Rechts­mit­tel eben nach Hamm, Köln oder Düs­sel­dorf.

beck-ak­tu­ell: Nach­dem man also erst­in­stanz­lich auf Eng­lisch und mit mehr Ge­schäfts­ge­heim­nis­schutz vor der spe­zia­li­sier­ten Land­ge­richts­kam­mer ver­han­delt hat, geht es dann in der zwei­ten In­stanz zum ganz nor­ma­len OLG, ob­wohl es dort einen Com­mer­ci­al Court gibt?

Bert: Das kann pas­sie­ren, ja. Und zu­sätz­lich zu die­sem re­gio­na­len As­pekt gibt es auch noch ganz un­ter­schied­li­che Mo­del­le.

Wir haben zum einen das Mo­dell der wirk­lich spe­zia­li­sier­ten Com­mer­ci­al Courts. So macht Ber­lin nur Bau- und Ar­chi­tek­ten­recht, Bre­men er­klärt sich für zu­stän­dig für Schiff­fahrts­recht, Trans­port­recht, Was­ser­stoff­recht und Luft- und Welt­raum­recht. In Stutt­gart gibt es Ge­sell­schafts­recht und M&A und dem Ver­neh­men nach wird auch Bay­ern mit einem spe­zia­li­sier­ten Zu­schnitt an den Start gehen.

beck-ak­tu­ell: Aber so hat der Bun­des­ge­setz­ge­ber sich das ja auch vor­ge­stellt, oder nicht?

Bert: Mehr oder we­ni­ger ja –  aber in der Summe soll­te alles ab­ge­deckt wer­den. Nun gibt es man­gels Ab­spra­chen da­ne­ben das breit auf­ge­stell­te Mo­dell: In Nie­der­sach­sen, NRW, Ham­burg und Hes­sen de­cken die Com­mer­ci­al Courts grund­sätz­lich die ge­sam­te vom GVG er­öff­ne­te Pa­let­te an Rechts­ge­bie­ten ab.

Und dann gibt es noch re­gio­na­le Mo­di­fi­ka­tio­nen. Es gibt Bun­des­län­der, die haben sich dafür ent­schie­den, nur einen Com­mer­ci­al Court ein­zu­rich­ten, das gilt für Bre­men und aller Vor­aus­sicht nach auch für Bay­ern. Dort soll es also zwar einen Com­mer­ci­al Court geben, aber keine erst­in­stanz­li­che Com­mer­ci­al Cham­ber.

Und dann gibt es Bun­des­län­der, die haben für die Com­mer­ci­al Cham­bers noch­mal ei­ge­ne Zu­stän­dig­keits­streit­wer­te ein­ge­führt – zum Bei­spiel 100.000 Euro in Nie­der­sach­sen.

"Da ist die alt­be­währ­te Schieds­klau­sel ein­fa­cher und ri­si­ko­lo­ser"

beck-ak­tu­ell: Vor dem Hin­ter­grund einer der­art zer­split­ter­ten Land­schaft: Wie be­ra­ten Sie Ihre Man­dan­ten, wenn es darum geht, wo Rechts­strei­tig­kei­ten aus­ge­foch­ten wer­den sol­len?

Bert: Man kommt ja grund­sätz­lich nur zum Com­mer­ci­al Court kraft aus­drück­li­cher oder still­schwei­gen­der Zu­stän­dig­keits­ver­ein­ba­rung. Aber wenn ich als Kau­tel­ar­ju­rist jetzt eine Ge­richts­stands­ver­ein­ba­rung ent­wer­fen will, dann stehe ich in der Tat vor der Frage: Soll ich des Was­ser­stoff­rechts wegen nach Bre­men gehen, auch auf die Ge­fahr hin, dass ich die 500.000 Euro nicht er­rei­che? Denn dort gibt es ja keine kor­re­spon­die­ren­de erste In­stanz.

Die Frage stellt sich auch um­ge­kehrt - wenn ich ei­gent­lich die Com­mer­ci­al Cham­ber in Bie­le­feld ganz sexy finde, aber es dort keine Be­ru­fung zu einem Com­mer­ci­al Court gibt, son­dern die Be­ru­fung dann zum – nicht ge­son­dert spe­zia­li­sier­ten – OLG Hamm füh­ren würde.

Man­gels Zu­stän­dig­keits­ver­ein­ba­rung unter den Län­dern müs­sen Be­ra­ter jetzt rich­tig auf­pas­sen. Sie müs­sen sich mit po­ten­zi­ell acht oder bald wo­mög­lich neun ver­schie­de­nen Lan­des­ver­ord­nun­gen be­fas­sen, um eine pass­ge­naue Ge­richts­stands­klau­sel ent­wer­fen zu kön­nen. Da ist die alt­be­währ­te Schieds­klau­sel deut­lich ein­fa­cher und auch ri­si­ko­lo­ser.

Die Jus­tiz hat ein Pre­mi­um-Pro­dukt ent­wor­fen, ihrer ei­ge­nen Auf­fas­sung nach, und rich­tig ge­macht könn­te es das auch sein. Aber den Ver­trieb, den sourct sie an die Rechts­an­walt­schaft aus. Die Rechts­an­wäl­tin­nen und Rechts­an­wäl­te müs­sen sich jetzt über­le­gen, ob sie das ihren Man­dan­ten ver­kau­fen kön­nen, ge­ra­de auch in einem Cross-Bor­der-Kon­text an aus­län­di­sche Ver­trags­part­ner.  Es gibt jetzt doch ein paar Hür­den mehr, als es ideal wäre und als es, glau­be ich, auch der Ge­setz­ge­ber sich ge­dacht hat.

"Baden-Würt­tem­berg kann auch Com­mer­ci­al Court"

beck-ak­tu­ell: Gibt es denn auch ein gutes Bei­spiel?

Bert: Das über­zeu­gends­te Kon­zept aus mei­ner sub­jek­ti­ven Sicht ist das in Baden-Würt­tem­berg. Die kön­nen be­kannt­lich alles außer Hoch­deutsch, also kön­nen sie auch Com­mer­ci­al Court. Die baden-würt­tem­ber­gi­sche Jus­tiz hatte ja schon in Stutt­gart einen Com­mer­ci­al Court alter Prä­gung, auf die­ser Er­fah­rung wird dort auf­ge­baut, mit einem ziem­lich ein­fa­chen und be­nut­zer­freund­li­chen Kon­zept.

Die Stutt­gar­ter stel­len eine Mus­ter­klau­sel zur Ver­fü­gung, der Com­mer­ci­al Court beim OLG Stutt­gart ist für ganz Baden-Würt­tem­berg zu­stän­dig, die Com­mer­ci­al Cham­ber sind beim LG Stutt­gart an­ge­sie­delt.

Zudem gibt es eine klare Spe­zia­li­sie­rung, Stutt­gart macht Ge­sell­schafts­recht. Ein Senat macht Per­so­nen­ge­sell­schaf­ten, ein an­de­rer Ka­pi­tal­ge­sell­schaf­ten und eine Zu­stän­dig­keit für M&A wird auch noch an­ge­bo­ten. Das kommt der Ide­al­vor­stel­lung des Ge­setz­ge­bers, so wie ich sie ver­stan­den habe, re­la­tiv nahe.

beck-ak­tu­ell: Das Ge­setz ist seit ei­ni­gen Wo­chen in Kraft, sind denn die Com­mer­ci­al Courts auch alle wirk­lich da und ein­satz­be­reit?

Bert: Hes­sen und Bay­ern sind noch nicht so weit, die bei­den Län­der haben das für den Som­mer an­ge­kün­digt, Sach­sen für das Jah­res­en­de. Alle an­de­ren Län­der haben in der ers­ten April­wo­che die je­wei­li­gen Ver­ord­nun­gen er­las­sen und sind zu­min­dest auf dem Pa­pier start­klar.

"Dann wird es eben wie­der die DIS oder der ICC"

beck-ak­tu­ell: Vor dem Hin­ter­grund des sich nun zei­gen­den zer­split­ter­ten Bil­des: Wür­den Sie Ihren Man­dan­ten dazu raten, für den Streit­fall eine Zu­stän­dig­keit eines Com­mer­ci­al Courts zu ver­ein­ba­ren?

Bert: Sie krie­gen die klas­si­sche Ju­ris­ten­ant­wort: Das kommt drauf an. Bei­spiels­wei­se in M&A-Ver­trä­gen könn­te ich mir gut vor­stel­len, Stutt­gart zu wäh­len. Viel­leicht über­zeugt die Spe­zia­li­sie­rung auch man­che Un­ter­neh­men davon, die Com­mer­ci­al Courts oder Cham­bers an­zu­ru­fen. In NRW steckt hin­ter der ört­li­chen Auf­tei­lung auch ein in­halt­li­ches Spe­zia­li­sie­rungs­kon­zept: Düs­sel­dorf ist zu­stän­dig für Ge­sell­schafts­recht, Köln für IT, Bie­le­feld und Essen für er­neu­er­ba­re En­er­gi­en. Und ich könn­te mir durch­aus vor­stel­len, dass man sich dann in der IT-Bran­che für Köln ent­schei­det, zumal für be­stimm­te Fälle der dor­ti­ge Zu­stän­dig­keits­streit­wert von 100.000 Euro si­cher­lich auch kein Aus­schluss­kri­te­ri­um sein muss.

Wo die Par­tei­en die Spe­zia­li­sie­rung und die Ser­vice­ori­en­tie­rung der Com­mer­ci­al Courts nut­zen wol­len, könn­ten zu­min­dest deutsch-deut­sche Rechts­strei­tig­kei­ten erst­mal hin­ge­hen. Aber für Cross-Bor­der-An­ge­le­gen­hei­ten sind die neuen Com­mer­ci­al Courts aus mei­ner Sicht zu kom­pli­ziert, zu schwer zu ver­kau­fen und mit viel zu vie­len Un­wäg­bar­kei­ten be­las­tet.

beck-ak­tu­ell: Vie­len Dank für das Ge­spräch

Peter Bert ist Rechts­an­walt und Part­ner im Be­reich Li­ti­ga­ti­on Dis­pu­te Re­so­lu­ti­on bei Rimon Fal­ken­fort. Er ist au­ßer­dem selbst als Schieds­rich­ter in na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Schieds­ver­fah­ren tätig, Mit­glied des Ge­setz­ge­bungs­aus­schus­ses Zi­vil­pro­zess­recht des Deut­schen An­walts­ver­eins und einer der Her­aus­ge­ber des ZPO-Blogs.

Die Fra­gen stell­te Pia Lo­renz. Das In­ter­view ba­siert auf einem Ge­spräch in der ak­tu­el­len Folge 50 von Ge­rech­tig­keit und Lo­se­blatt, dem Pod­cast von beck-ak­tu­ell und NJW.

Redaktion beck-aktuell, Pia Lorenz, 22. April 2025.

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