Frankreich: Oberstes Gericht bejaht weitreichende Spielräume bei Interpretation von Kunstwerken

Mit der Frage, ob die Neuinterpretation eines Kunstwerkes (hier: einer Oper) Urheberrechte verletzt, hatte sich das Oberste französisches Gericht zu befassen. Es hat dabei eine Grundsatzentscheidung zur Kunstfreiheit getroffen, die dem Regisseur bei der Neuauslegung eines Kunstwerks erhebliche Bewegungsfreiheit einräumt. Dies teilte am 30.11.2018 die Pariser Kanzlei Cabinet Adam-Caumeil mit. Nach ihrer Einschätzung dürfte die Entscheidung weitreichende Auswirkungen auf die gesamte künstlerische Szene Frankreichs haben.

Schlussszene der Oper "Dialogues des Carmélites" abgeändert

Konkret ging es um die Oper "Dialogues des Carmélites", die im März 2010 in der Inszenierung von Dimitri Tcherniakov an der Bayerischen Staatsoper in München zur Premiere kam. Das Werk basiert auf dem Libretto des Komponisten Francis Poulenc nach dem gleichnamigen Drama von Georges Bernanos. In der Schlussszene, um die sich der Rechtsstreit dreht, sieht die Originalfassung den Märtyrertod aller Karmelitinnen durch die Guillotine vor. Tcherniakov erzählt mit seiner abstrakten Bühnensprache den Ausgang der Geschichte anders. In seiner Fassung der Bayerischen Staatsoper München halten sich die Nonnen in einem Häuschen auf, in welchem eine Gasflasche deponiert ist. Die Karmelitinnen sind durch das Gas betäubt, sterben jedoch nicht, da sich eine der Nonnen stellvertretend für alle opfert.

Erben der Autoren sehen Urheberrechte verletzt

Im konkreten Fall ging es laut Cabinet Adam-Caumeil um die Frage, wie weit die künstlerische Freiheit gehen darf, um sowohl der Unversehrtheit des Werkes als auch dem Willen des Schöpfers gerecht zu werden. Die Erben von Poulenc und Bernanos argumentieren, die Aussage des Werkes werde durch die Schlussszene in urheberrechtsverletzender Weise verändert. Die Bayerische Staatsoper als Beklagte sah die Neuinterpretation durch die Kunstfreiheit gedeckt.

Vorinstanzen uneinig

In den ersten beiden Instanzen waren sich die französischen Richter nach Angaben der Kanzlei nicht einig. Während das Landgericht Paris die Klage der Erben von Poulenc und Bernanos zunächst abgewiesen habe, habe sich das Oberlandesgericht Paris auf den Standpunkt gestellt, dass "die Inszenierung der Schlussszene durch Tcherniakov eine Entstellung des Werkes von Georges Bernanos und Francis Poulenc darstellt und die damit verbundenen Urheberrechte verletzt". Gleichzeitig habe das OLG jedoch anerkannt, dass die Inszenierung der Beklagten die Kernaussage des Werkes respektiere. Dieser Widerspruch habe zur Revision des Urteils des OLG Paris vom 13.10.2015 geführt.

Wesentliche Themen trotz Abänderung übernommen

Der oberste französische Gerichtshof habe den Rechtsstreit an das OLG von Versailles zurückverwiesen, das am 30.11.2018 neu entschieden habe. Das OLG Versailles habe sich zugunsten der Beklagten der Rechtsauffassung des obersten französischen Gerichtshofs gebeugt und entschieden, dass dem Regisseur eine sehr weit gesteckte Freiheit einzuräumen ist. Es habe festgehalten, dass weder die Dialoge noch die Musik durch den Regisseur abgeändert wurden. Auch die streitgegenständliche Schlussszene übernehme die den Autoren Bernanos und Poulenc so wesentlichen Themen der Hoffnung, des Märtyrertods, der Gnade und der Gemeinschaft der Heiligen. In der Tat sei dafür nicht ausschlaggebend, dass alle Schwestern den Märtyrertod sterben, sondern dass das christliche Prinzip der Selbstaufgabe durch den Opfertod von Schwester Blanche anstelle ihrer Mitschwestern ausreichend betont wird.

Intendant der Bayerischen Staatsoper: Urteil bedeutsam für alle Kunstsparten

"Kunst heißt immer auch Interpretation", kommentierte Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper, die Entscheidung. Dass dies nun auch von einem Gericht anerkannt wurde, sei wichtig für alle Kunstsparten. Dmitri Tcherniakovs Produktion von Dialogues des Carmélites kehrt im Herbst 2020 in drei Aufführungen auf die Bühne der Bayerischen Staatsoper zurück.

Redaktion beck-aktuell, 4. Dezember 2018.