LG Münster: Familienprivileg kann zu doppelter Entschädigung führen

SGB X §§ 6, 116 I; VVG § 86 III; GG Art. 3 I

1. Das in § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X normierte Familienprivileg kann nach einem Urteil des Landgerichts Münster zur Folge haben, dass der Geschädigte kongruente Leistungen sowohl von dem Sozialversicherungsträger als auch von dem angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer erhält, er insoweit also doppelt entschädigt wird. Eine daraus aufgrund der Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG resultierende Benachteiligung privatversicherter Geschädigter gegenüber sozialversicherten Geschädigten sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor.

LG Münster, Urteil vom 03.05.2019 - 8 O 307/16, BeckRS 2019, 9065

Anmerkung von
Rechtsanwalt Ottheinz Kääb, LL.M., Fachanwalt für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht,
Rechtsanwälte Kääb Bürner Kiener & Kollegen, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 13/2019 vom 04.07.2019

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Straßenverkehrsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Straßenverkehrsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Straßenverkehrsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Die Klägerin war Beifahrerin ihrer Mutter, als das Fahrzeug mit einem bei der Beklagten pflichtversicherten Lkw kollidierte. Der Unfall wurde von der Mutter der Klägerin fahrlässig herbeigeführt und ausschließlich verursacht und verschuldet.

Die Klägerin wurde im Fahrzeug bei diesem Unfall schwerstverletzt und leidet seitdem an dauerhaften körperlichen und geistigen Behinderungen. Es besteht ein dauerhaftes Psychosyndrom mit ausgeprägten kognitiven Störungen, die sprachliche Kommunikationsfähigkeit ist gestört und aufgrund spastischer Tetraparese kann die Klägerin weder selbstständig stehen noch gehen. Die Fähigkeit, ihre Hände zum Greifen oder Loslassen zu benützen, ist begrenzt. Damit ist auch eine selbstständige Nahrungsaufnahme nur eingeschränkt möglich.

In einem Vorprozess, der durch Vergleich beendet wurde, hatte die Klägerin Pflegemehrbedarf für die Zeit vom 24.02.2008 bis zum 31.10.2013 geltend gemacht. Nunmehr macht sie Pflegebedarf für die Zeit vom 01.11.2013 bis 31.10.2016 in Höhe von 100.000 EUR geltend. Die Beklagte hatte vorschussweise 70.000 EUR bezahlt. Im streitgegenständlichen Zeitraum hat die Klägerin ferner von der Pflegeversicherung rund 16.000 EUR bekommen. In der Klage berechnet sie die einzelnen Stunden unter Beweisantritt und verlangt pro Stunde 12,75 EUR.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Klägerin insoweit nicht aktiv legitimiert sei, als sie Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten habe. Das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X finde zugunsten der Klägerin keine Anwendung, insbesondere liege eine gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung gegenüber den Fällen vor, auf die § 86 VVG Anwendung finde.

Das Gericht hat ein schriftliches Sachverständigengutachten erholt. Es hat bezüglich der Zeitaufwendungen für die Klägerin deren Klagevortrag bestätigt.

Rechtliche Wertung

Das LG hat die Klage überwiegend abgewiesen. Die Klägerin habe gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von rund 13.000 EUR. Ein weitergehender Anspruch wegen des von der Klägerin geltend gemachten Pflegemehrbedarfs bestehe nicht. Den Betreuungsbedarf im Klagezeitraum, den der Sachverständige mit 6.928,28 Stunden errechnet habe, hat sich das Gericht als Schätzgrundlage nach § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu eigen gemacht. Den Stundenlohn hat das Gericht geringfügig gekürzt und für den hier streitgegenständlichen Zeitraum in dem hier streitgegenständlichen Gebiet mit 12 EUR netto angesetzt.

Damit kommt das Gericht auf einen Gesamtbetrag von rund 83.000 EUR, worauf vorschussweise 70.000 EUR bezahlt worden seien, so dass noch rund 13.000 EUR verblieben.

Insoweit sei die Klägerin auch aktivlegitimiert, denn der Anspruch der Klägerin sei nicht gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf den Träger der Pflegeversicherung übergegangen. Der Anspruchsübergang sei infolge des hier normierten Familienprivilegs ausgeschlossen. Das Familienprivileg habe seit 30.05.1908 in § 67 Abs. 2 VVG bestanden, jedoch habe eine entsprechende Bestimmung im Sozialversicherungsrecht, solange dort der § 1542 RVO galt, gefehlt.

Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH gelte die Sperre des Übergangs der Forderung auf den Sozialversicherungsträger nicht nur für den gegen den Familienangehörigen gerichteten Schadenersatzanspruch, sondern auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer. Der konstruktive Unterschied zwischen § 86 Abs. 3 VVG einerseits und § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X andererseits führe dazu, dass der sozialversicherte Geschädigte bei Anwendung des Familienprivilegs unter Umständen – regelmäßig dann, wenn eine Haftpflichtversicherung des Schädigers einstandspflichtig ist – eine doppelte Entschädigung erhält, der privatversicherte Schädiger jedoch nicht.

Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung der Normen sei diese Ungleichbehandlung jedoch sachlich gerechtfertigt. Denn wegen des privatautonom bestimmten Bestehens der Privatversicherung und ihres ebenso privatautonom bestimmten Umfangs sei dort die Gefahr eines Fehlanreizes zu vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls im Allgemeinen deutlich größer, als in der einen Mindestschutz bietenden Sozialversicherung. Das Gesetz nehme dabei in Kauf, dass die stärkere Eindämmung dieses Fehlanreizes in der Privatversicherung durch die konstruktive Gestaltung des Familienprivilegs des § 86 VVG zugleich dazu führt, dass durch die Leistungen der Privatversicherung des Geschädigten mittelbar der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer entlastet werden können.

Praxishinweis

Die Entscheidung, die wir hier vorstellen, ist für die Praxis sehr wesentlich. Im Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Anmerkung wissen wir allerdings nicht, ob die Entscheidung rechtskräftig wurde.

Auf den ersten Blick mag die Entscheidung verwundern. Die sehr eingehende Begründung der Zivilkammer zeigt aber die zwingende Notwendigkeit dieses Ergebnisses. Literatur und Rechtsprechung sind in besonders großem Umfang verarbeitet. Wer immer sich mit der Aktivlegitimation und dem Familienprivileg zu beschäftigen hat, findet in diesem Urteil eine besonders reich gefüllte Schatztruhe.

Redaktion beck-aktuell, 8. Juli 2019.