"Gefährder" trotz entgegenstehenden Eilbeschlusses des VG Gelsenkirchen nach Tunesien abgeschoben

Obwohl das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seine Abschiebung am 12.07.2018 durch unanfechtbaren Beschluss vorläufig untersagt hatte (Az.: 7a L 1200/18.A), ist ein tunesischer Staatsangehöriger, der im Verdacht steht, Leibwächter von Osama Bin Laden gewesen zu sein und der von den deutschen Behörden als islamistischer Gefährder eingestuft wird, am frühen Morgen des 13.07.2018 aus Deutschland in sein Heimatland abgeschoben worden. Das ausführende Land Nordrhein-Westfalen beruft sich auf eine zwei Tage zuvor ergangene gerichtliche Bestätigung der Abschiebungsandrohung. Das VG verwies darauf, dass eine Abschiebungsandrohung auch bei bestehenden Abschiebungsverboten erlassen werden kann.

VG: Abschiebungsverbot bleibt wirksam

Nach dem Beschluss des VG vom 12.07.2018 indes bleibt das für den Tunsier festgestellte Abschiebungsverbot für Tunesien bis zu einer abschließenden Entscheidung im Klageverfahren wirksam. Bereits mit Bescheid vom 21.06.2010 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aufgrund eines Urteils des VG Düsseldorf und mit Bestätigung der wesentlichen Aussagen dieses Urteils durch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass der Kläger nicht nach Tunesien zurückgeführt werden dürfe, da ihm dort Folter und unmenschliche Behandlung drohe (Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes in der damals geltenden Fassung).

BAMF widerrief Abschiebungsverbot 2014

Mit Bescheid vom 17.07.2014 widerrief das BAMF diese Feststellung, weil sich nach dem Umsturz in Tunesien seit Anfang des Jahres 2011 (sogenannter Arabischer Frühling) die Verhältnisse so geändert hätten, dass dem Kläger die früher festgestellten Gefahren nun nicht mehr drohten. Diesen Widerruf hob das VG Gelsenkirchen mit Urteil vom 15.06.2016 auf (BeckRS 2016, 47269). Mit Bescheid vom 20.06.2018 widerrief das BAMF die Feststellung dieses Abschiebungsverbotes erneut und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Hiergegen richtet sich der mit Beschluss vom am 12.07.2018 beschiedene Antrag des Tunesiers.

VG Gelsenkirchen geht von Fortbestehen der Gefahr aus

Der Einschätzung des BAMF vermochte sich das VG Gelsenkirchen nach erneuter Überprüfung der Sach- und Rechtslage in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht anzuschließen und verblieb damit im Ergebnis bei der Einschätzung des Urteils vom 15.06.2016. Das VG konnte – anders als das BAMF in dem Bescheid vom 20.06.2018 – eigenen Angaben zufolge nicht feststellen, dass sich die Verhältnisse in Tunesien so weit geändert hätten, dass für den Antragsteller im Fall der Rückkehr nach Tunesien keine beachtliche Gefahr mehr bestehe. Eine diplomatische verbindliche Zusicherung der tunesischen Regierung, dass dem Antragsteller im Fall der Rückkehr keine Folter drohe, liege nach den Feststellungen des VG nicht vor. Die Erklärung des tunesischen Ministers für Menschenrechte vom 01.05.2018 sei nicht gegenüber staatlichen Stellen, sondern allein gegenüber einem deutschen Presseorgan abgegeben worden und reiche deshalb nicht aus, um die Sicherheit des Antragstellers vor menschenrechtswidriger Behandlung in Tunesien zu gewährleisten.

Abschiebungsandrohung trotz Abschiebungsverboten rechtmäßig

Weiter führt das VG aus, aufgrund der aktuellen Widerrufsentscheidung des BAMF habe die Ausländerbehörde der Stadt Bochum dem Antragsteller die Abschiebung nach Tunesien angedroht. Diese Maßnahme sei aufgrund der bisher bestehenden tatsächlichen Duldung des Aufenthalts des Klägers in Deutschland erforderlich, um eine Abschiebung zu ermöglichen. Mit Beschluss vom 11.07.2018 (Az.: 8 L 1240/18) habe die für die aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zuständige 8. Kammer des VG Gelsenkirchen die Abschiebungsandrohung für rechtmäßig erachtet, da der Antragsteller ausreisepflichtig sei. Die Abschiebungsandrohung könne unabhängig vom Bestehen der durch das BAMF zu prüfenden Abschiebungsverbote ausgesprochen werden und diene lediglich der rechtlichen Vorbereitung der tatsächlichen Abschiebung, merkt das VG an.

Vorgänge am Freitag noch nicht geklärt

Warum der Antragsteller gleichwohl aus Deutschland abgeschoben und den Behörden in Tunesien übergeben wurde - obwohl ein Gericht dies kurz zuvor untersagt hatte - ist noch nicht geklärt. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums sagte in Berlin, der Antragsteller sei in Begleitung von vier Bundespolizisten außer Landes gebracht worden. Er wurde Sicherheitskreisen zufolge am Freitag gegen 7.00 Uhr mit einer Chartermaschine von Düsseldorf aus in sein Heimatland geflogen. Zuerst hatte die "Bild"-Zeitung darüber berichtet. Über das Abschiebeverbot hatte das Gericht das BAMF am gleichen Morgen informiert. Die Entscheidung vom Donnerstagabend sei um 8.27 Uhr an das BAMF gefaxt worden, sagte ein Gerichtssprecher. Das BAMF untersteht dem Bundesinnenministerium.

BMI "unterstützte" Nordrhein-Westfalen bei Abschiebung

Die BMI-Sprecherin sagte, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) "wurde heute morgen nach Beendigung der Rückführung informiert, sprich mit Übergabe an die tunesischen Behörden". Sie erklärte, generell sei es so, dass "wenn den Behörden ein gerichtlicher Beschluss bekannt ist, dass eine Abschiebung nicht durchgeführt werden darf, dann kann nicht abgeschoben werden". Das Bundesinnenministerium habe die Behörden in Nordrhein-Westfalen bei der Abschiebung "unterstützt", fügte die Sprecherin hinzu. Die Entscheidung über die Abschiebung liege in diesem Fall aber in NRW.

NRW beruft sich auf vom VG bestätigte Abschiebungsandrohung

Das nordrhein-westfälische Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat nach eigenen Angaben am Freitagmorgen keine Kenntnis vom Abschiebeverbot gehabt. Die Rückführung nach Tunesien sei auf der Grundlage eines früheren Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen erfolgt, teilte das Ministerium am 13.07.2018 mit. Eine andere Kammer des Gerichts habe am 11.07.2018 die Abschiebungsandrohung des Ausländeramts der Stadt Bochum für rechtmäßig erachtet. "Auf Grundlage dieses Beschlusses ist die Rückführung nach Tunesien durchgeführt worden. Ein anderslautender Beschluss lag dem Ministerium zu diesem Zeitpunkt nicht vor", heißt es in der Mitteilung des Ministeriums. Laut VG Gelsenkirchen dient die Abschiebungsandrohung "lediglich der rechtlichen Vorbereitung der tatsächlichen Abschiebung". Auf die Frage eines Journalisten, ob der Gefährder womöglich aufgrund der Gerichtsentscheidung nach Deutschland zurückgeholt werden müsse, sagte die BMI-Sprecherin: "Das ist tatsächlich Sache von NRW und im Ergebnis des Gerichts." "Es liegt jetzt daran, ob und wie sich der Betroffene gegen die Abschiebung wehrt", sagte dazu Gerichtssprecher Wolfgang Thewes der "Neue Ruhr/Neue Rhein-Zeitung". Zwischenzeitlich hat der Betroffene einen Eilantrag auf Rückholung nach Deutschland gestellt.

Ausweisung erfolgte wegen islamistischer beziehungsweise salafistischer Vergangenheit

Der 1976 geborene Kläger ist tunesischer Staatsangehöriger, der 1997 zu Studienzwecken nach Deutschland eingereist ist. Ihm wurde laut VG vorgeworfen, im Jahr 2000 eine militärische und ideologische Ausbildung in einem Ausbildungslager der Al Kaida in Afghanistan absolviert und zeitweise zur Leibgarde von Osama Bin Laden gehört zu haben. Anschließend soll er sich in Deutschland als salafistischer Prediger betätigt haben. Der Kläger hat diese Vorwürfe stets bestritten. Die Bundesanwaltschaft hatte gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber schließlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Gleichwohl nahm die Ausländerbehörde der Stadt Bochum die genannten Vorwürfe zum Anlass, den Kläger auszuweisen. Bereits im Jahr 2006 hatte der Kläger einen Asylantrag gestellt, mit dem er geltend gemacht hatte, dass er wegen ihm in Tunesien drohender menschenrechtswidriger Behandlung nicht nach Tunesien zurückgeführt werden könne.

Islamistische oder salafistische Vergangenheit des Betroffenen bei Foltergefahr irrelevant

Das Gericht stellte in seiner Entscheidung vom 15.06.2016 insbesondere klar, dass die Frage islamistischer oder salafistischer Vergangenheit oder Betätigung des Klägers für die Entscheidung keine Rolle gespielt habe. Dem Verbot, Menschen der Folter auszusetzen, komme im internationalen und nationalen Recht ein so hoher Stellenwert zu, dass niemand einem entsprechenden Risiko ausgesetzt werden dürfe.

VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12.07.2018 - 7a L 1200/18.A

Redaktion beck-aktuell, 13. Juli 2018 (dpa).