Über Italien eingereister Gambier stellte weiteren Asylantrag in Deutschland
in der Rechtssache C-163/17 (Jawo) beantragte ein Gambier in Italien erstmals Asyl. Er reiste weiter nach Deutschland und stellte hier einen weiteren Asylantrag. Die deutschen Behörden lehnten diesen Antrag als unzulässig ab und ordneten die Abschiebung nach Italien an. Ein Überstellungsversuch nach Italien scheiterte jedoch, weil der Ausgangskläger in seiner Gemeinschaftsunterkunft nicht anwesend war. Bei seiner Rückkehr erklärte er, dass er einen Freund in einer anderen deutschen Stadt besucht habe und ihn niemand darauf hingewiesen habe, dass er seine Abwesenheit hätte melden müssen.
Gambier hält Rücküberstellung wegen unmenschlicher Lebensverhältnisse für unzulässig
Der Ausgangskläger machte vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim geltend, Deutschland sei für den Asylantrag zuständig geworden, weil die in der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Überstellungsfrist von sechs Monaten abgelaufen sei. Er sei auch nicht flüchtig gewesen, so dass die Frist nicht auf höchstens 18 Monate verlängert werden dürfe. Seine Überstellung nach Italien sei auch deshalb unzulässig, weil das Asylverfahren, die Aufnahmebedingungen der Antragsteller sowie die Lebensverhältnisse von Personen mit internationalem Schutzstatus systemische Schwachstellen aufwiesen.
VGH Mannheim: Prekäre Lebensumstände zu berücksichtigen?
Der VGH bat den EuGH um Auslegung der Dublin-III-Verordnung und des in der EU-Grundrechtecharta enthaltenen Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Er verwies auf den im August 2016 vorgelegten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, aus dem sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, dass Personen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden sei, einem Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden. Nach diesem Bericht werde für die italienische Bevölkerung das unzureichend entwickelte italienische Sozialsystem durch die familiäre Solidarität aufgewogen, die jedoch bei Personen fehle, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Der Bericht weise ferner auf Mängel bei den Integrationsmaßnahmen in Italien hin.
Palästinenser mit subsidiären Schutzstatus in Bulgarien beantragten Asyl in Deutschland
In den übrigen Rechtssachen wurde staatenlosen Palästinensern aus Syrien in Bulgarien sowie einem russischen Staatsangehörigen, der nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit ist, in Polen subsidiärer Schutz gewährt. Sie stellten später in Deutschland neue Asylanträge, die abgelehnt wurden. Dagegen klagten sie bei deutschen Gerichten.
BVerwG legt Fragen dem EuGH vor
In den Rechtssachen bezüglich der staatenlosen Palästinenser wollte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere wissen, ob ein Asylantrag auch dann als unzulässig abgelehnt werden dürfe, wenn die Lebensbedingungen von Personen mit subsidiären Schutzstatus in einem anderen EU-Staat als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen seien, oder sie dort keine oder im Vergleich zu anderen EU-Staaten nur deutlich eingeschränkte existenzsichernde Leistungen erhielten, ohne insofern jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden.
EuGH: Vermutung grund- und menschenrechtskonformer Behandlung
Laut EuGH darf ein Asylantragsteller in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt oder ein Asylantrag bei bereits zuvor in einem anderen EU-Staat gewährtem subsidiären Schutz als unzulässig abgelehnt werden, es sei denn, der Antragsteller geriete in dem anderen Mitgliedstaat unfreiwillig in eine Situation extremer materieller Not. Der Gerichtshof verweist auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruhe. Daher müsse die Vermutung gelten, dass Personen, die Asyl beantragt hätten oder denen subsidiärer Schutz gewährt worden sei, in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten behandelt werden.
Gericht muss bei entsprechenden Angaben Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung prüfen
Der EuGH fährt aber fort, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat bestehe. Daher müsse das Gericht, das über einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder im Fall eines als unzulässig abgelehnten neuen Asylantrags zu entscheiden habe, würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, wenn der Antragsteller Angaben gemacht hat, um das Vorliegen des Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in dem anderen Mitgliedstaat nachzuweisen.
Prekäre Lebensverhältnisse nur bei extremer materieller Not unmenschlich
Besagte Schwelle wäre laut EuGH erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (insbesondere Ernährung, Hygiene, Unterkunft), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Eine große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichten diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, so dass ihre Situation einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.
Günstigere Lebensverhältnisse im Zweitantragsland begründen noch keine Gefahr unmenschlicher Behandlung
Erhielten subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt habe, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen, ohne insofern jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, könne dies nur dann die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen, wenn sich der Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Dem EuGH zufolge kann jedenfalls der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Asylantrag gestellt worden sei, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger seien als in dem Mitgliedstaat, der normalerweise für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei oder bereits subsidiären Schutz gewährt habe, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
Asylantrag darf wegen bestehenden subsidiären Schutzstatus auch bei systematischer Verweigerung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abgelehnt werden
In den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 (Ibrahim) und andere führt der EuGH ferner aus, dass ein neuer Asylantrag auch dann als unzulässig abgelehnt werden dürfe, wenn der Mitgliedstaat, der dem Antragsteller subsidiären Schutz gewährt habe, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert. In einem solchen Fall müsse der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufnehmen. Denn der subsidiäre Schutzstatus dürfe nur dann zuerkannt werden, wenn nach einer individuellen Prüfung festgestellt werde, dass eine internationalen Schutz beantragende Person nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfülle.
"Flüchtigkeit" bei Abwesenheit ohne Informierung der Behörden anzunehmen
In der Rechtssache C-163/17 (Jawo) stellt der EuGH zudem fest, dass ein Antragsteller "flüchtig ist", wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies könne angenommen werden, wenn die Überstellung scheitere, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren. Voraussetzung sei aber, dass er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Dies habe das nationale Gericht zu prüfen. Der Antragsteller behalte die Möglichkeit nachzuweisen, dass er den Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. Außerdem könne der Asylantragsteller im Rahmen eines Verfahrens gegen eine gemäß der Dublin-III-Verordnung ergangene Überstellungsentscheidung geltend machen, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist mangels Flüchtigkeit abgelaufen ist und dass aufgrund dieses Fristablaufs der Mitgliedstaat, der ihre Überstellung beschlossen habe, für die Prüfung ihres Antrags zuständig geworden sei.
Verlängerung der Überstellungsfrist
Der EuGH betont schließlich, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genüge, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt.