EuGH-Generalanwältin: Gestattete Durchreise während Flüchtlingskrise kein illegaler Grenzübertritt

Nach Ansicht der Generalanwältin Sharpston beim Europäischen Gerichtshof ist unter den außergewöhnlichen Umständen der Flüchtlingskrise für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag zuerst gestellt wurde. Ein illegaler Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-Verordnung liege nicht vor, wenn Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Union, die mit einem Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert seien, diesen Menschen gestattet hätten, auf dem Weg in andere Mitgliedstaaten in ihr Hoheitsgebiet einzureisen und es zu durchqueren. Dies geht aus den Schlussanträgen der Generalanwältin in den Rechtssachen C-490/16 und C-646/16 vom 08.06.2017 hervor.

Syrer reiste über Kroatien nach Slowenien ein

Im ersten Fall (Az.: C-490/16) klagte ein syrischer Staatsangehöriger, der aus Syrien über die Westbalkanroute nach Slowenien gereist war. Als er an dem für den Übertritt über die Staatsgrenze zwischen Serbien und Kroatien vorgesehenen Ort ankam, wurde ihm die Einreise nach Kroatien gestattet, und die kroatischen Behörden organisierten seine Weiterbeförderung an die slowenische Staatsgrenze. Im Februar 2016 stellte er bei den slowenischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach der Dublin-III-Verordnung ist, wenn festgestellt wird, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Grenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig.

Gerichtshof soll Legalität der "Durchreise" klären

Die slowenischen Behörden waren der Ansicht, der Kläger sei “illegal“ im Sinn der Verordnung nach Kroatien eingereist, und deshalb sei Kroatien für die Prüfung seines Antrags zuständig. Kroatien erklärte sich bereit, den Kläger wiederaufzunehmen; dies wurde ihm von den slowenischen Behörden mitgeteilt. Der Syrer erhob gegen die Entscheidung der slowenischen Behörden Klage mit der Begründung, dass das Kriterium für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats falsch angewendet worden sei, weil das Verhalten der kroatischen Behörden (ihm die Überschreitung der Außengrenze zu gestatten) dahin ausgelegt werden müsse, dass er legal nach Kroatien eingereist sei. Der Oberste Gerichtshof der Republik Slowenien wollte vom Gerichtshof wissen, wie die Begriffe der illegalen oder unrechtmäßigen Einreise in diesem Kontext anzuwenden sind.

Zweiter Fall: Afghanische Familien flohen über Griechenland nach Österreich

Im zweiten Fall (Az.: C-646/16) flohen zwei afghanische Schwestern im Jahr 2015 aus Afghanistan mit ihren Kindern über die Westbalkanroute nach Österreich. Sie reisten zunächst in Griechenland in das Unionsgebiet ein. Dort blieben sie drei Tage lang, bevor sie das Unionsgebiet wieder verließen und in Kroatien erneut einreisten. Als sie in Österreich angelangt waren, beantragten sie dort internationalen Schutz. Die österreichischen Behörden waren der Ansicht, dass Kroatien der für die Prüfung dieser Anträge zuständige Mitgliedstaat sei. Die Familien seien in Griechenland illegal in das Unionsgebiet eingereist, weil sie als afghanische Staatsangehörige Visa benötigt hätten. Da in Griechenland systemische Mängel im Asylverfahren bestünden, sei jedoch nach der Dublin-III-Verordnung Kroatien (das sie auf dem Weg nach Österreich durchquert hätten) als der zuständige Mitgliedstaat anzusehen.

Illegalität des Grenzübertritts auch in diesem Fall streitig

Die Schwestern machten geltend, ihnen sei die Einreise aus humanitären Gründen im Einklang mit dem Schengener Grenzkodex gestattet worden, sodass sie nicht “llegal“ eingereist seien. Daher sei Österreich der für die Prüfung ihrer Anträge zuständige Mitgliedstaat. Der Wiener Verwaltungsgerichtshof fragte den Gerichtshof, ob der Begriff des illegalen Grenzübertritts unabhängig oder in Verbindung mit anderen Unionsrechtsakten über Anforderungen an Drittstaatsangehörige, die die Außengrenze der Union überschreiten (wie den Schengener Grenzkodex), auszulegen ist und ob die Gestattung der Einreise in den Schengen-Raum während der “humanitären Krise“ zur Visafreiheit im Sinn der Dublin-III-Verordnung führe.

Generalanwältin: Dublin-III-Verordnung nach Wortlaut auszulegen

Vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen Umstände der Flüchtlingskrise ist die Generalanwältin der Ansicht, dass die Dublin-III-Verordnung allein anhand ihres Wortlauts, ihres Kontexts und ihrer Zwecke auszulegen sei und nicht in Verbindung mit anderen Unionsrechtsakten, insbesondere dem Schengener Grenzkodex und der Rückführungsrichtlinie. Die Dublin-III-Verordnung sei integraler Bestandteil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und habe damit einen anderen Zweck als Rechtsakte wie der Schengener Grenzkodex und die Rückführungsrichtlinie. Außerdem hätten die drei Rechtsakte nicht die gleiche Rechtsgrundlage, was zeige, dass ihr Kontext und ihre Ziele nicht völlig übereinstimmten.

Durchreisegestattung nicht mit Visum gleichzusetzen

Die Gestattung der Einreise Drittstaatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Union, damit diese in andere Mitgliedstaaten durchzureisen können, um einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, sei der Erteilung eines Visums nicht gleichzustellen Die Regeln für die Ausstellung von Visa seien mit der Einhaltung einer Reihe von Formalien verbunden, von denen in den vorliegenden Fällen keine erfüllt gewesen sei. Es liege aber kein illegaler Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-Verordnung vor, wenn Mitgliedstaaten infolge eines Massenzustroms von Drittstaatsangehörigen, die um internationalen Schutz in der Union nachsuchten, den Drittstaatsangehörigen gestatteten, die Außengrenze der Union zu überschreiten und anschließend in andere Mitgliedstaaten durchzureisen, um in einem bestimmten Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen.

Dublin-III-Verordnung zielt nicht auf außergewöhnliche Massenzuwanderung ab

Art. 13 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, wonach der Mitgliedstaat, dessen Grenze ein Drittstaatsangehöriger illegal überschritten habe, für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei, solle die Mitgliedstaaten zu Wachsamkeit bei der Gewährleistung der Integrität der Außengrenze der Union anhalten. Die Verordnung ziele jedoch nicht darauf ab, eine nachhaltige Verteilung der Zuständigkeit für Personen, die internationalen Schutz beantragten, innerhalb der Union als Reaktion auf einen außergewöhnlichen Zustrom von Menschen zu gewährleisten, wie er den Hintergrund der Vorabentscheidungsersuchen bilde.

Einreise der Betroffenen nicht “illegal“ im Sinn der Verordnung

Unter solchen Umständen könne in beiden Fällen die Einreise in das Unionsgebiet zwar nicht als “legal“ bezeichnet werden, doch könne sie auch nicht als “illegal“ im Sinn der Verordnung eingestuft werden. Dies gelte vor allem, weil die Transitmitgliedstaaten der Union die massenhaften Grenzübertritte nicht nur toleriert, sondern sowohl die Einreise als auch die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet aktiv erleichtert hätten. Die Verordnung sei schlicht nicht für solche außergewöhnlichen Umstände gedacht gewesen, und deshalb liege unter den Umständen der vorgelegten Rechtssachen kein illegaler Grenzübertritt vor.

Vorliegend sind ausnahmsweise die Mitgliedstaaten der Antragstellung zuständig

Die Generalanwältin ist auch der Auffassung, dass unter den außergewöhnlichen Umständen der vorliegenden Fälle ein Mitgliedstaat berechtigt gewesen wäre, Drittstaatsangehörigen gestützt auf die Ausnahme im Schengener Grenzkodex die Überschreitung seiner Außengrenze aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen zu gestatten. Dabei setze die Heranziehung der Ausnahme nicht voraus, dass der Mitgliedstaat eine Einzelfallprüfung vorgenommen habe. In Anbetracht der Gesamtumstände und der Tatsache, dass in keiner der Rechtssachen der Mitgliedstaat, in dem die Anträge gestellt worden seien, die Zuständigkeit freiwillig übernommen habe, müssten diese Anträge – wie in Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung vorgesehen – von dem ersten Mitgliedstaat geprüft werden, in dem sie gestellt worden seien. Im Fall des Syrers sei daher Slowenien und im Fall der afghanischen Familien Österreich der zuständige Mitgliedstaat.

EuGH, Schlussanträge vom 08.06.2017 - C-490/16

Redaktion beck-aktuell, 8. Juni 2017.