EuGH: Folteropfer können trotz Wegfalls der Foltergefahr im Herkunftsstaat Anspruch auf subsidiären Schutz haben

Folteropfer haben einen Anspruch auf subsidiären Schutz, wenn ihnen bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat (hier: Sri Lanka) zwar keine Foltergefahr mehr droht, sich ihr physischer und psychischer Gesundheitszustand aber erheblich und unumkehrbar verschlimmern könnte und die realistische Gefahr besteht, dass ihnen dort eine angemessene medizinische Behandlung absichtlich verweigert wird. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 24.04.2018 entschieden (Az.: C-353/16).

Britische Behörden verweigern tamilischem Folteropfer aus Sri Lanka subsidiären Schutz

Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein sri-lankischer Staatsangehöriger, reiste im Januar 2005 als Student in das Vereinigte Königreich ein. 2009 stellte er einen Asylantrag. Er machte geltend, dass er den tamilischen Befreiungstigern von Tamil Eelam (LTTE) angehört habe, von den sri-lankischen Sicherheitskräften inhaftiert und gefoltert worden sei und bei einer Rückkehr nach Sri Lanka Gefahr laufe, erneut misshandelt zu werden. Die britischen Behörden lehnten seinen Asylantrag ab und verwehrten ihm auch die Gewährung subsidiären Schutzes, da nicht nachgewiesen sei, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland erneut Gefahr drohe.

Gericht: Mangels fortbestehender Foltergefahr kein subsidiärer Schutz

Der Ausgangskläger focht die Entscheidung der britischen Behörden an. Er legte ärztliche Zeugnisse vor, die bescheinigten, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Depression als Folgen der Folter litt und suizidale Tendenzen zeigte. Das britische Gericht bestätigte die Versagung subsidiären Schutzes, da nicht nachgewiesen sei, dass dem Ausgangskläger in Sri Lanka nach wie vor Gefahr drohe. Es kam jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Rückführung des Ausgangsklägers nach Sri Lanka gegen die EMRK verstoßen würde, da seine psychischen Erkrankungen dort nicht angemessen behandelt werden könnten.

Vorlagegericht: Subsidiärer Schutz für Folteropfer bei ungenügender Behandlung im Herkunftsland?

Der mit einem Rechtsmittel befasste britische Supreme Court rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und wollte wissen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der an den Folgen in seinem Herkunftsland erlittener Folterungen leidet, dort aber bei einer Rückkehr keine solchen Misshandlungen mehr zu befürchten hat, Anspruch auf subsidiären Schutz hat, weil das Gesundheitssystem dieses Landes keine angemessene Behandlung seiner psychischen Erkrankungen ermöglicht.

EuGH: Kein automatischer Anspruch auf subsidiären Schutz

Der EuGH hält zunächst fest, dass Folteropfer nicht automatisch einen Anspruch auf subsidiären Schutz haben, wenn ihnen im Fall der Rückkehr in ihr Herkunftsland keine Foltergefahr mehr droht. Die Regelung des subsidiären Schutzes solle eine Person vor der tatsächlichen Gefahr ernsthafter Schäden bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland bewahren. Dies setze voraus, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, die betreffende Person sei bei einer Rückkehr in dieses Land einer solchen Gefahr ausgesetzt. Dies sei nicht der Fall, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass die Bedrohung durch den in der Vergangenheit erlittenen ernsthaften Schaden erneut oder weiterhin besteht.

Abschiebungsverbot bei Gefahr erheblicher und unumkehrbarer Verschlimmerung psychischer Störungen

Laut EuGH geht es im vorliegenden Fall aber um ein Folteropfer, das an schwerwiegenden psychischen Folgeschäden der damaligen Folterhandlungen leidet, die sich nach ordnungsgemäß getroffenen medizinischen Feststellungen im Fall einer Rückkehr deutlich verschlechtern würden. Dabei bestünde die ernsthafte Gefahr eines Suizids. Der EuGH betont, dass die Richtlinie 2004/83/EG über die Regelung des subsidiären Schutzes unter Beachtung der Rechte, die in der EU-Grundrechtecharta garantiert seien, auszulegen sei. Die Charta sehe ausdrücklich vor, dass darin garantierte Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der EMRK haben. Im Einklang mit der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte legt der EuGH Art. 4 der EU-Grundrechtecharta dahin aus, dass ein Drittstaatsangehöriger, der an einer besonders schweren psychischen oder physischen Beeinträchtigung leidet, nicht abgeschoben werden darf, wenn damit die Gefahr einer wesentlichen und unumkehrbaren Verschlechterung seines Gesundheitszustands verbunden wäre. Denn die Abschiebung wäre dann eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Dies gelte in besonderem Maß, wenn die Verschlimmerung – wie hier – sogar sein Überleben gefährden würde.

Anspruch auf subsidiären Schutz nur bei absichtlicher Verweigerung medizinischer Versorgung im Herkunftsstaat 

Der EuGH fährt fort, dass es bei der Vorlagefrage aber darum gehe, ob der Aufnahmemitgliedstaat Folteropfern subsidiären Schutz gewähren muss, deren schwere psychische Folgeschäden sich bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland deutlich verschlimmern könnten, wobei die ernste Gefahr eines Suizids bestehe. Er weist zunächst darauf hin, dass einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen kein subsidiärer Schutzstatus eingeräumt werden müsse, auch wenn die EMRK seiner Abschiebung in ein Land ohne angemessene Behandlungsmöglichkeiten in Ausnahmefällen entgegenstehe. Der Grund für den derzeitigen Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen – die Folterung im Herkunftsland – sei zwar ein relevanter Aspekt, doch könne eine erhebliche Verschlimmerung seines Zustands für sich genommen nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in seinem Herkunftsland angesehen werden. Die Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Drittstaatangehörigen könne keine ausreichende Rechtfertigung für eine Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus sein, es sei denn, die Versorgung werde absichtlich verweigert, so der EuGH unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung. Ob der Ausgangskläger bei einer Rückkehr nach Sri Lanka der Gefahr ausgesetzt sein könnte, dass ihm eine angemessene Behandlung der physischen oder psychischen Folterfolgeschäden absichtlich verwehrt wird, müsse nun der Supreme Court prüfen.

EuGH, Urteil vom 24.04.2018 - C-353/16

Redaktion beck-aktuell, 24. April 2018.