EuGH: EU-Asylregeln für Vereinigtes Königreich bis zu tatsächlichem EU-Austritt bindend

Die Brexit-Erklärung ändert nichts daran, dass das Vereinigte Königreich zuständiger Staat im Sinne der Dublin-III-Verordnung bleibt. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 23.01.2019 entschieden. Die EU-Vorschriften gölten im Vereinigten Königreich bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich weiter (Az.: C-661/17).

Irisches Gericht bestätigte Überstellung an das Vereinigte Königreich

Im Januar 2017 bestätigte das International Protection Appeals Tribunal (IPAT, Irland) eine Entscheidung des irischen Flüchtlingsbeauftragten, in der die Empfehlung ausgesprochen wurde, die Ausgangskläger an das Vereinigte Königreich zu überstellen. Der Flüchtlingsbeauftragte war der Auffassung, das Vereinigte Königreich sei nach der Dublin-III-Verordnung dafür zuständig, die Prüfung der Asylanträge der Ausgangskläger zu übernehmen.

Gericht sah sich für Ermessensentscheidung nicht zuständig

Das IPAT hielt sich nicht dafür zuständig, das in Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung eingeräumte Ermessen auszuüben. Nach dieser Klausel kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien für die Bestimmung des "zuständigen Staates" nicht für die Prüfung zuständig ist.

Vorlagegericht: Auswirkungen der Brexit-Erklärung auf das Dublin-System?

Der irische High Court, der mit einem Rechtsmittel gegen die Entscheidung des IPAT befasst ist, meinte, es müsse für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits vorab ermittelt werden, welche Auswirkungen das Verfahren des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union auf das Dublin-System haben könnte. Er rief deshalb den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH: Brexit-Erklärung lässt Anwendung des Unionsrechts bis zum Austritt unberührt

Der EuGH erinnert zunächst an seine Rechtsprechung, wonach die Mitteilung eines Mitgliedstaats über seine Absicht, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in diesem Mitgliedstaat bewirke, sodass die unionsrechtlichen Vorschriften in diesem Staat bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft bleiben.

Brexit-Erklärung verpflichtet Irland nicht zu eigener Prüfung des Asylantrags

Anschließend weist der EuGH darauf hin, dass aus dem Wortlaut der in der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Ermessensklausel klar hervorgehe, dass es sich um eine fakultative Klausel handelt und diese Befugnis im Übrigen an keine besondere Bedingung geknüpft ist. Sie solle es jedem Mitgliedstaat ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist. Diese Feststellung stehe im Einklang mit dem Ziel dieser Klausel, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren, sowie mit der ständigen EuGH-Rechtsprechung, wonach fakultative Bestimmungen den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen einräumten. Es sei Sache des einzelnen Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von seinem Ermessen Gebrauch machen wolle, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nicht zuständig ist, selbst zu prüfen. Nach Auffassung des EuGH verpflichtet daher der Umstand, dass ein als zuständig im Sinne der Dublin-III-Verordnung bestimmter Mitgliedstaat – hier das Vereinigte Königreich – seine Absicht mitgeteilt hat, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten, den die Zuständigkeit bestimmenden Mitgliedstaat – hier Irland – nicht dazu, in Anwendung der Ermessensklausel den Antrag auf internationalen Schutz selbst zu prüfen.

Bestimmung zuständigen EU-Staats und Anwendung der Ermessensklausel durch verschiedene Behörden möglich

Außerdem hat der EuGH entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist zu bestimmen, welche nationalen Behörden für die Anwendung der Dublin-III-Verordnung zuständig sind. Dabei stehe es einem Mitgliedstaat frei, die Zuständigkeit für die Anwendung der in dieser Verordnung definierten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und diejenige für die Anwendung der in dieser Verordnung vorgesehenen Ermessensklausel verschiedenen Behörden zu übertragen. Die Dublin-III-Verordnung enthalte keine Vorschrift, aus der hervorginge, welche Behörde dazu ermächtigt sei, eine Entscheidung nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats oder gemäß der Ermessensklausel zu treffen. Ebenso wenig sei in der Verordnung geregelt, dass ein Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Anwendung solcher Kriterien und diejenige für die Anwendung dieser Ermessensklausel derselben Behörde übertragen muss. Hingegen bestimme die Verordnung, dass jeder Mitgliedstaat der Kommission unverzüglich die speziell für die Durchführung dieser Verordnung zuständigen Behörden sowie alle späteren sie betreffenden Änderungen mitteilt.

Wohl des Kindes verpflichtet nicht zu eigener Prüfung des Asylantrags im Wege des Ermessens

Außerdem verpflichteten die Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung einen Mitgliedstaat, der nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz unzuständig ist, nicht dazu, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung der in dieser Verordnung vorgesehenen Ermessensklausel selbst zu prüfen, so der EuGH weiter.

Rechtsbehelf gegen Nichtgebrauch der Ermessensklausel nicht erforderlich

Ferner verpflichte die Verordnung nicht dazu, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der Ermessensklausel keinen Gebrauch zu machen, vorzusehen, da diese Entscheidung im Rahmen einer Klage gegen die Überstellungsentscheidung angefochten werden könne, so der EuGH.

Gesetzliche Vermutung: Eltern-Kind-Einheit dient Wohl des Kindes

Schließlich hat der EuGH festgestellt, dass Art. 20 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung, soweit kein Beweis für das Gegenteil vorliegt, die Vermutung begründe, dass es dem Wohl des Kindes dient, seine Situation als untrennbar mit der seiner Eltern verbunden anzusehen.

EuGH, Urteil vom 23.01.2019 - C-661/17

Redaktion beck-aktuell, 23. Januar 2019.