Streit um Zuschuss für Arbeitsuchende
Florea Gusa, ein rumänischer Staatsangehöriger, reiste 2007 in das Hoheitsgebiet Irlands ein. Von 2008 bis 2012 war er als selbstständiger Stuckateur tätig und entrichtete in Irland seine Steuern, die einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträge und die anderen Abgaben auf seine Einkünfte. Im Jahr 2012 gab Gusa seine Tätigkeit wegen eines auf dem Rückgang der Konjunktur beruhenden Mangels an Arbeit auf. Er verfügte über kein Einkommen mehr und stellte daher einen Antrag auf Gewährung eines Zuschusses für Arbeitsuchende. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Gusa nicht nachgewiesen habe, dass er noch immer ein Recht auf Aufenthalt in Irland besitze. Seit Beendigung seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit als Stuckateur habe er nämlich seine Eigenschaft als Selbstständiger verloren und daher nicht mehr die in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) vorgesehenen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts erfüllt.
Streit um Aufenthaltsrecht wegen "unfreiwilliger Arbeitslosigkeit"
Art. 7 der Richtlinie sieht jedoch vor, dass einem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, die Erwerbstätigeneigenschaft und damit ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat in vier Fällen erhalten bleibt. Einer dieser Fälle betrifft die Situation, dass ein Bürger "nach mehr als einjähriger Beschäftigung" in "unfreiwillige Arbeitslosigkeit" gerät. Gusa geht davon aus, dass ihm die Selbstständigeneigenschaft und folglich ein Aufenthaltsrecht in Irland nach dieser Vorschrift erhalten bleibe. Die irischen Behörden wiederum sind der Ansicht, dass diese Vorschrift nur für Personen gelte, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer ausgeübt hätten.
Nationales Gericht bat um Klärung
Der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), der mit dem Rechtsmittel befasst ist, befragte den Gerichtshof, ob der in der Richtlinie enthaltene Ausdruck "unfreiwillige Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung" ausschließlich Personen erfasst, die unfreiwillig arbeitslos geworden sind, nachdem sie einer mehr als einjährigen Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer nachgegangen sind, oder auch diejenigen Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, nachdem sie eine mehr als einjährige selbstständige Tätigkeit ausgeübt haben.
Sprachfassungen der Richtlinie weichen voneinander ab
Der EuGH hat entschieden, dass aus dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung nicht abgeleitet werden kann, dass sie nur den Fall von Personen erfasst, die keine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer mehr ausüben, und nicht für Personen gilt, die eine Erwerbstätigkeit als Selbstständige aufgegeben haben. Zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie bestünden Abweichungen. In einigen Sprachfassungen werde im Kern auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer Bezug genommen, während der Unionsgesetzgeber in anderen eher die neutrale Formulierung "Berufstätigkeit" verwende. Der EuGH wies darauf hin, dass im Fall von Abweichungen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtsakts die betreffende Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck des Rechtsakts ausgelegt werden muss.
Unterscheidung nur zwischen wirtschaftlich tätigen und nicht erwerbstätigen Bürgern
Mit der Richtlinie sollten die Bedingungen festgelegt werden, unter denen Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, betont der EuGH. Zu diesem Zweck unterscheide sie zwischen wirtschaftlich tätigen und nicht erwerbstätigen Bürgern und Studierenden. Hingegen treffe sie keine Unterscheidung zwischen im Aufnahmemitgliedstaat unselbstständig und selbstständig erwerbstätigen Bürgern. Sodann betont der EuGH, dass mit der Richtlinie der Ansatz überwunden werden sollte, der für die früheren Richtlinien, die unter anderem Arbeitnehmer und Selbstständige getrennt behandelten, charakteristisch war.
EuGH befürchtet Ungleichbehandlung in vergleichbar schwieriger Lage
Schließlich würde eine enge Auslegung der fraglichen Bestimmung (also eine Auslegung, die lediglich die Personen erfasst, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer ausgeübt haben) nach Ansicht des EuGH eine unterschiedliche Behandlung von Personen, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer nicht mehr ausüben, und Personen, die eine Erwerbstätigkeit als Selbstständige aufgegeben haben, einführen, die nicht gerechtfertigt wäre, da sich eine Person, die einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, ebenso wie ein Arbeitnehmer, der unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verlieren kann, gezwungen sehen kann, diese Tätigkeit aufzugeben. Diese Person könnte somit in eine vergleichbare schwierige Lage geraten wie ein entlassener Arbeitnehmer.
Tatsache der Einzahlungen ins Sozialversicherungs- und Steuersystem zu berücksichtigen
Eine solche unterschiedliche Behandlung wäre umso weniger gerechtfertigt, als sie dazu führen würde, dass eine Person, die eine mehr als einjährige Erwerbstätigkeit als Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt und zum Sozialversicherungs- und Steuersystem dieses Mitgliedstaats beigetragen hat, gleichbehandelt würde wie eine Person, die in diesem Mitgliedstaat erstmals einen Arbeitsplatz sucht, dort nie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt und nie in das Sozialversicherungs- und Steuersystem des fraglichen Staates eingezahlt hat. Der EuGH entschied daher, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der, nachdem er sich in einem anderen Mitgliedstaat etwa vier Jahre rechtmäßig aufgehalten und als Selbstständiger gearbeitet hatte, diese Tätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruhte, aufgegeben hat, die Eigenschaft eines Selbstständigen im Sinne der Richtlinie erhalten bleibt.