Intergeschlechtlichkeit im Weltsport: Schweizer Gericht hätte Semenyas Fall besser prüfen müssen

Ein Teilerfolg für Olympiasiegerin Caster Semenya. Die Fragen um IAAF-Regeln zur verpflichtenden Testosteronsenkung bei Intersex-Sportlerinnen wurden zwar nicht geklärt, dafür bescheinigte der EGMR dem Schweizer Bundesgericht mangelnde Gründlichkeit bei der Prüfung von Semenyas Verfahren.

Im Jahr 2018 veröffentlichte der Internationale Leichtathletikverband World Athletics (ehem. IAAF) neue Richtlinien zum Umgang mit Sportlerinnen, die "Störungen der Geschlechtsentwicklung" (engl. "Disorders of Sex Development", DSD) aufweisen. Von den Regeln betroffen war auch die nordafrikanische Mittelstreckenläuferin und zweifache Olympiasiegerin Caster Semenya. Aufgrund chromosomaler Abweichungen besitzt Semenya – nach eigenen Angaben – keine Gebärmutter, sondern innenliegende Hoden, die für einen erhöhten Testosteronspiegel verantwortlich sind. Sie sieht sich selbst als Frau. Die DSD-Regeln hätten ihr sechs Monate vor internationalen Wettkämpfen medikamentöse Testosteronsenkungen vorgeschrieben, um in ihrer Disziplin weiterhin an den Start gehen zu dürfen.

Dagegen wehrte sie sich zunächst vor dem Internationalen Sportsgerichtshof (CAS) – dem obersten Sportsschiedsgericht mit Sitz in Lausanne, Schweiz - der zwar eine Diskriminierung feststellte, diese aber vor dem Hintergrund eines vermeintlich faireren Wettbewerbs rechtfertigte. Semenyas Beschwerde vor dem Schweizer Bundesgericht hatte ebenso keinen Erfolg: Die Entscheidung des CAS sei kein Verstoß gegen die "öffentliche Ordnung" der Schweiz und daher hier bei summarischer Prüfung hinzunehmen.

Im Februar 2021 zog Semenya vor den EGMR, der nun über die CAS-Entscheidung geurteilt hat. Die Zulässigkeit der Testosterongrenzen und verpflichtenden Behandlungen wurde dabei nicht geklärt, sehr wohl hat die Große Kammer aber die Maßstäbe klargestellt, anhand derer die Entscheidungen des CAS durch nationale Gerichte zu beurteilen sind.

Nur Teilfragen beantwortet

Die Große Kammer stellte voran, dass Semenyas Beschwerde nur in Teilen zulässig sei. Semenya hatte geltend gemacht, dass sie sich in ihren Rechten aus Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verletzt sah, da das Schweizer Bundesgericht zu begrenzt geurteilt habe. Vor allem würden die DSD-Regeln ihre körperliche und psychische Unversehrtheit sowie ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Berufsfreiheit verletzen, wobei sie sich insgesamt auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) berief. Die Behandlung durch die DSD-Regeln sei damit insgesamt diskriminierend, entgegen Art. 14 EMRK.

Der EGMR stellte klar, dass kein territorialer Bezug zur Schweiz bestehe, soweit die DSD-Regeln selbst angegriffen würden. Im Bezug auf Artikel 8, 13 und 14 EMRK sei die Beschwerde daher unzulässig. Anders stehe es indes bei der Verletzung von Art. 6 EMRK. Durch die Beschwerde vor dem Schweizerischen Bundesgericht sei für die Schweiz die Verpflichtung erwachsen, Semenyas Recht auf ein faires Verfahren zu wahren. Dieses Recht aus Art. 6 EMRK habe das Bundesgericht verletzt.

Bundesgericht hätte besser prüfen müssen

Für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens sei hier ein besonders strenger Maßstab anzulegen gewesen, dem der Schweizer Gerichtshof nicht genügt habe. Das folge aus einem besonderen Kräfteungleichgewicht zwischen den Sportdachverbänden und den Sportlerinnen und Sportlern. So seien die Verbände in der Lage, die Beziehungen zu den Sportlerinnen und Sportlern sowie internationale Wettkämpfe und insbesondere die Zuständigkeit des CAS als Schiedsgericht einseitig zu regeln. Diese umfassende strukturelle Kontrolle über die internationale Sportschiedsgerichtsbarkeit mache Art. 6 EMRK als Schutzmechanismus umso wichtiger. Entsprechend sei es Gerichten geboten, Entscheidungen des CAS einer besonders strikten ("rigorous") Prüfung zu unterziehen, in Semenyas Fall noch verstärkt durch ernsthafte persönliche Belange.

Daher sei zu erwarten gewesen, dass das Bundesgericht auf die konkreten DSD-Regelungen ausreichend Bezug nehme, zumal die Schwierigkeiten der geforderten medizinischen Behandlung gerade der Kern von Semenyas Vorbringen gewesen sei. Stattdessen habe sich das Gericht darauf beschränkt, die CAS-Entscheidung auf die Vereinbarkeit mit der "öffentlichen Ordnung" im Sinne des IPRG (Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht) zu prüfen. Dabei habe das Gericht keine Stellung bezüglich der DSD-Regelungen bezogen, sondern sich im Gegenteil nur das Recht vorbehalten, diese in anders gelagerten Fällen näher zu überprüfen.

Der CAS habe indes selbst bereits Bedenken angedeutet, die der Gerichtshof hier habe aufgreifen müssen. Darunter die vermeintlich willkürliche Entscheidung von World Athletics, auch 1.500m- und Meilenläufe in den Anwendungsbereich der DSD-Regelungen zu ziehen. Auch sei nicht hinreichend beleuchtet worden, dass der Geschlechtszustand betroffener Sportlerinnen aufgrund der DSD-Regeln öffentlich gemacht werde. Auch insofern habe das Bundesgericht den hier gebotenen Prüfungsmaßstab nicht eingehalten.

Semenya hatte keine Schadensersatzforderungen geltend gemacht, erhielt jedoch Aufwendungsersatz in Höhe von 80,000 Euro. Sie hat ihre Karriere inzwischen beendet.

EGMR, Urteil vom 10.07.2025 - 10934/21

Redaktion beck-aktuell, tbh, 11. Juli 2025.

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