Paragrafen zum Wahlausschluss sind nicht anzuwenden
Der Zweite Senat unter Vorsitz von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle entschied unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung. Voßkuhle erklärte, bei Anträgen auf Eintragung in das Wählerverzeichnis nach §§ 17, 17a Europawahlordnung sowie bei Einsprüchen und Beschwerden gegen die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Wählerverzeichnisse nach § 21 Europawahlordnung für die neunte Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 26.05.2019 seien § 6a Abs. 1 Nummer 2 und 3 des Europawahlgesetzes und § 6a Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Absatz 1 Nr. 2 und 3 des Europawahlgesetzes nicht anzuwenden.
Urteilsgründe folgen
Die nicht anzuwendenden Regelungen enthalten Wahlrechtsausschlüsse für in allen ihren Angelegenheiten Betreute und für wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Straftäter. Die Entscheidung ist gemäß § 32 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG ohne schriftliche Begründung bekanntgegeben worden. Die Urteilsgründe werden nach Abfassung unverzüglich veröffentlicht werden.
Wahlausschluss sollte nach der Europawahl abgeschafft werden
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Januar 2019 entschieden, dass der generelle Wahlausschluss von geistig oder psychisch beeinträchtigten Menschen verfassungswidrig ist. Deshalb wollte der Bundestag die Paragrafen streichen, mit denen Behinderte, die in allen Angelegenheiten betreut werden, bislang grundsätzlich von Bundestags- und Europawahlen ausgeschlossen werden - nach dem Willen der Bundestagsmehrheit aber erst nach der Europawahl.
Antragsgegner betonen Zeitmangel
Für die Antragsteller sprach der Bevollmächtigte Ulrich Hufeld in der Verhandlung von einer Falschbestimmung des Wahlvolks, wenn Betreute ausgeschlossen werden. Auf Seiten des Bundestags argumentierte der Bevollmächtigte Bernd Grzeszick, die Wahl stehe unmittelbar bevor. Damit Betreute wählen können, müssten Assistenzen eingerichtet und Manipulation vermieden werden. Das brauche Zeit. Grzeszick verwies auch auf den Verhaltenskodex für Wahlen der Europäischen Kommission für Demokratie und Recht (Venedig-Kommission), nach dem das Wahlrecht ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr verändert werden darf. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer, gab zu bedenken, dass eine Änderung jetzt möglicherweise mehr Schaden als Nutzen anrichten würde. "Uns fehlt die Zeit zum Ändern der Wählerverzeichnisse." Diese seien bereits erstellt. "Wir wollen ein inklusives Wahlrecht für alle", betonte Mayer.
Rund 80.000 Betroffene
Bundeswahlleiter Georg Thiel verwies auf die ungleiche Verteilung der Betroffenen in den Gemeinden und die damit verbundene Arbeitsbelastung zur Änderung der Wählerverzeichnisse. Eine Teilnahme von Betreuten an der Wahl sei aber organisatorisch nicht unmöglich. Auch von Landeswahlleitern kam das Signal, dass die Zeit knapp, die Organisation aber noch zu schaffen sei. Betroffen sind mehr als 80.000 Menschen in Deutschland, für die ein Gericht einen Betreuer in allen Lebensbereichen bestellt hat, etwa weil sie psychisch oder geistig beeinträchtigt sind. Das gilt auch für Straftäter, die wegen Schuldunfähigkeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht sind.
Antragsteller zufrieden
Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann, freute sich über die Entscheidung. Die große Koalition habe in der Frage des Wahlrechts blockiert. "Ich freue mich riesig für die vielen betroffenen Menschen." Der FDP-Bundestagsabgeordnete Jens Beeck sieht das Ziel erreicht. Wer bisher ausgeschlossen gewesen sei, könne jetzt durch einen einfachen Zuruf an seine Gemeinde die Teilnahme erreichen.